Die Pestspur
Gotteshaus beizuwohnen. Aufgrund der vergangenen Pest und deren Auswirkungen hatte der Propst schweren Herzens beschlossen, die mitternächtliche Christmette ausfallen zu lassen und stattdessen das abendliche Lobgebet festlicher zu gestalten, als er dies in den vergangenen Jahren getan hatte. Normalerweise war die Vesper als Teil des liturgischen Stundengebetes keine besonders feierliche Angelegenheit. Da die Mette jedoch ausfiel, war die Christvesper die letzte Hore des Tages, die in Gemeinschaft gebetet werden sollte. Da auch einige Mitglieder des Kirchenchores und der Organist durch die Hand des ruchlosen Arztes Heinrich Schwartz verstorben waren, würde ausschließlich der Volksgesang die musikalische Umrahmung bilden. Und da die Menschen hier kein Latein konnten, würden sie durch muttersprachliche Lieder den feierlichen Gesang des Chores ersetzen, anstatt ihn – wie in den Jahren zuvor – nur zu ergänzen. Propst Glatt hatte sowieso ein großes Faible für den Volksgesang, weswegen er heute ganz besonders zufrieden war.
Die geschundenen Menschen lechzten danach, Gott endlich wieder nahe sein zu dürfen. So waren auch diejenigen, die keinen Platz in der Kirche bekommen hatten, in einer ganz besonderen Weihnachtsstimmung.
»Immerhin haben wir die schreckliche Zeit überlebt«, hörte man Hermann Schädler sagen. Der allseits beliebte Ziegenzüchter war einer der wenigen, der es trotz des eigenen Elends verstand, andere aufzumuntern. Dies hatte ihm die Wertschätzung aller eingebracht und sogar vereinzelt schon den Ruf laut werden lassen, er wäre der ideale Mann für das Amt des Ortsvorstehers.
Als Konstanze am Kirchplatz angelangt war, musste sie viele Hände schütteln und die immer gleiche Frage nach dem Verbleib ihres Mannes beantworten. Sie konnte es kaum mehr ertragen und half sich, indem sie ein künstliches Lächeln aufsetzte. Siegbert hatte zusammen mit Ignaz die Gelegenheit genutzt, sich unters Volk zu mischen. Gerade Siegbert wollte sich unauffällig nach einer holden Maid umsehen.
»Herr im Himmel, lass sie gesund zurückkommen«, flehte Konstanze leise mit einem Blick nach oben, nachdem sie der jungen Frau Stockelhauser alles Gute zur bevorstehenden Geburt und zu Weihnachten gewünscht hatte.
»Ein gesegnetes Christfest!«, pfiff auch die alte Weidenflechterin durch ihre letzten Zähne. Sie konnte wegen ihres geschundenen und vor Schmerz gekrümmten Rückens keine weiten Wege mehr auf sich nehmen und musste von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gestützt werden. Dennoch wollte sie unbedingt mit in die Christvesper – gerade in diesem Jahr war ihr dies ein persönliches Bedürfnis.
»Die arme Frau ist ja noch kleiner geworden, als ich sie in Erinnerung habe«, stellte Konstanze mitleidig fest und rief sie zu sich: »Kommt, gute Frau. Ich nehme Euch mit in die Kirche, dort könnt Ihr sitzen und habt es zudem etwas wärmer. Wir werden schon noch ein Plätzchen für Euch finden.« Damit wollte sie sich selbst von ihren trüben Gedanken ablenken und gleichzeitig etwas Gutes tun.
Die betagte Frau wurde von ihren Angehörigen begleitet. Auch sie hatte innerhalb ihrer Familie Tote zu beklagen und einen Sohn durch die vermeintliche Pest verloren. Die Witwe des Verstorbenen war ebenso an ihrer Seite wie deren drei Töchter mit ihren Männern mitsamt der Enkelschar. Von ihren neun Enkelkindern waren allerdings nicht alle hier, da drei ebenfalls an der Pest gestorben waren und zwei bereits eigene Familien gegründet hatten, weswegen sie bei ihren Wickelkindern zu Hause bleiben mussten und freiwillig die Glutwache übernommen hatten.
»Was habt Ihr gesagt, edle Frau?«, fragte der Schwiegersohn der Weidenflechterin ungläubig. »Ihr wollt unsere Mutter mit in die Kirche nehmen? Aber … aber die ist bis auf die Ehrenplätze mehr als gefüllt.«
»Eben!«, antwortete Konstanze und bat ihn, die Mutter doch noch kurz zu übernehmen. »Ich bin sofort wieder hier!«, rief sie und eilte davon.
Die ihr folgenden Augen sahen, wie sie ihren Mann und ihre beiden großen Söhne so in die Arme nahm, als wären diese eben erst von einem monatelangen Kreuzzug aus Jerusalem zurückgekommen. »Gott der Allmächtige sei gepriesen«, sagte sie dankbar und zeichnete allen ein Kreuz auf die Stirn. »Und jetzt kommt … die Vesper beginnt gleich.«
Konstanze war so glücklich, dass sie jetzt gar nicht wissen wollte, wo ihre Söhne so lange waren. Während Diederich Lodewig entgegenrannte und von ihm aufgefangen
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