Die Pestspur
das?«, fragte sie verwundert, als sie ein Stoffpäckchen sah, das der Bauer heimlich auf die Anrichte gelegt hatte.
»Wickle es auf und du wirst es wissen«, empfahl ihr Mann mit einem altklugen Ton in der Stimme.
»So schlau bin ich selbst«, pfurrte sie zurück, tat aber, wie ihr empfohlen wurde. Nachdem sie den Knopf des dünnen Strickes gelöst und das Bündel aufgerollt hatte, stellte sie erfreut fest, dass ihr Rochus Höss auch noch etliche wunderschöne Fettstücke hiergelassen hatte.
Ihr Mann musste schmunzeln.
»So ein raffinierter Hund. Na ja, wenigstens ist es kein Fleisch, und wir dürfen es guten Gewissens annehmen.«
»Wie meinst du das? – Natürlich dürfen wir es annehmen!«, maulte sie zurück.
»Nun ist es aber endgültig gut. Reiß dich zusammen und erinnere dich daran, dass heute Weihnachten ist«, konterte der Kastellan.
Nachdem Konstanze nochmals ihrer Sorge um die beiden Söhne Ausdruck verliehen hatte, schimpfte sie: »Heute ist sowieso alles durcheinander. Ich glaube, dass es besser sein wird, wenn wir etwas später speisen.«
*
Wenn Diederich nicht ständig ans Fenster gesprungen wäre und dabei den mittleren Teil des Schiebefensters zur Seite gedrückt hätte, damit er mit den Händen ein paar Schneeflocken einfangen konnte, hätten sie den durch den Schnee gedämpften Glockenschlag nicht gehört.
»Mein Gott, schon drei! In zwei Stunden beginnt die Christvesper. Wo bleiben die Buben nur?«, sorgte sich die Mutter.
Am Vortag war es klirrend kalt geworden und jetzt fing es auch noch richtig dicht zu schneien an. Während sich die Schlossbewohner für einen Moment am Schnee erfreuten, verfluchten die meisten Menschen im Dorf unten den Ostner , der den Schnee gebracht hatte. Sie hassten den Winter mit all seinen Facetten und Auswirkungen. Da durch die vermeintliche Pest der normale Arbeitsalltag monatelang zum Erliegen gekommen war, hatten die meisten von ihnen zu wenig oder überhaupt kein Brennholz gesammelt. Und die streng limitierte Holzkohle, die sie dem Köhler hatten abkaufen können, reichte hinten und vorne nicht aus. Und jetzt zog es auch noch so richtig zwischen den Ritzen hindurch. Es müsste schon meterhoch schneien, damit sich eine wärmedämmende Schneedecke gnädig über die Behausungen legen konnte, um sie vor der kalten Zugluft zu schützen.
»Es wird langsam Zeit für die Kirche!«, rief Konstanze, während sie zwei Mal in die Hände klatschte, was bedeutete, dass sie sich mit ihrer Arbeit beeilen mussten. »Wo sind die beiden nur? Sie sind jetzt schon fast zwei Stunden weg«, klagte sie.
»Sie werden schon rechtzeitig zurück sein. Zum Wachszieher ist es ein Stück«, beruhigte sie ihr Mann, der das Gejammere nicht mehr hören konnte.
Nach einer weiteren halben Stunde richteten sie sich für den Kirchgang. Da es oberstes Gebot war, das Schloss niemals – auch nicht am Heiligen Abend – unbewacht zu lassen und Rosalinde die Kochtöpfe im Auge behalten musste, konnten die Dreylings von Wagrain nur Ignaz und eine der beiden Wachen mitnehmen.
Wie jedes Jahr am Nachmittag des 24. Dezember zogen Siegbert und Rudolph auch in diesem Jahr Stöckchen. Heuer war es Siegbert, der den längeren Holzspan in Händen hielt und mit in die Kirche gehen durfte. Dabei fiel ihm auf, dass es Rudolph locker zu nehmen schien, ausgerechnet am Heiligen Abend Wache schieben zu müssen. Dem überkorrekten Siegbert kam es nicht in den Sinn, dass Rudolph seinen Wachposten verlassen könnte, um zwischendurch in die Küche zu schleichen, wo ihm Rosalinde erlaubte, etwas von den köstlichen Speisen und sogar ein bisschen Wein zu kosten, während er sich in ihrer Nähe aufwärmen durfte.
*
»Ulrich, du musst zum Wachszieher gehen und nachsehen, ob unsere Buben dort sind. Ich habe ein ungutes Gefühl«, beschwor Konstanze ihren Mann, der, wie alle anderen winterfest gewandet, darauf wartete, endlich losgehen zu können. Vom Dorf her wurden sie bereits unüberhörbar gerufen – die drei Kirchenglocken hatten längst ihre volle Kraft entfaltet und sich gegen das Pfeifen des Windes behauptet.
Nachdem Ulrich Dreyling von Wagrain zum Wachszieher abgebogen war, gingen Konstanze, Diederich, Siegbert und Ignaz in Richtung des Gotteshauses weiter. Schon von weitem sahen sie eine große Menschenmenge vor dem Portal. Da die Kirche an diesem Spätnachmittag nicht alle Menschen fassen konnte, blieb vielen von ihnen nichts anderes übrig, als der Christvesper im Schneegestöber vor dem
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