Die Pestspur
wurde, hakte sich Konstanze bei Eginhard und ihrem Mann ein und führte sie zur Weidenflechterin.
Einen Arm streckte die alte Frau Eginhard hin, der sie lächelnd bei sich einhaken ließ.
Den verblüfft dreinschauenden Umstehenden rief die Weidenflechterin mit einem stolzen Unterton keck zu: »Der junge Mann ist mein Freund. – Nur kein Neid.« Nachdem sie dies gesagt hatte, lachte sie herzhaft auf.
*
Das Gotteshaus war tatsächlich bis in die hinterste Bankreihe und darüber hinaus gefüllt. Da die Staufner Kirche über keine herrschaftlichen Emporen seitlich des Chorraumes verfügte, waren die vorderen zwei Bankreihen für die gräfliche Familie reserviert und deswegen auch am Heiligen Abend leer. Auch wenn Graf Königsegg persönlich anwesend wäre und alle Plätze benötigt hätte, standen der Familie des Kastellans zwei Plätze dort zu. Das Volk durfte die hölzernen Sitzreihen erst ab der dritten Reihe nutzen. Rechts saßen die Männer. Frauen und Kinder ließ man aus einer alten Symbolik heraus links sitzen.
Als die Dreylings von Wagrain langsam zwischen den Reihen nach vorne gingen, folgten ihnen die Blicke sämtlicher Mitbrüder und Mitschwestern im Herrn. Aber auch Ulrich und Konstanze ließen ihre Blicke schweifen. So sehr sie sich auch anstrengten, fanden sie nicht, was sie so sehnlich suchten.
Dass der Medicus nicht da war, interessierte Konstanze nicht und verwunderte niemanden. Er würde Weihnachten bestimmt zu Hause mit einer Gallone des besten Obstbrandes vom Bodensee feiern.
Aber dies wusste Konstanze nicht und wäre ihr – wenn sie es wüsste – auch egal gewesen. Sie suchte nicht ihn, sondern die Familie Opser.
»Lieber Gott im Himmel. Wenn jetzt auch noch Hannß und Gunda Opser mit Otward hier sind, zünde ich dir so viele Kerzen an, wie du willst«, versprach sie.
Aber die Blaufärber waren nicht da, keiner von ihnen. Noch nie hatten sie die Christmesse versäumt – selbst damals nicht, als Hannß Opser den halben Kopf verbunden hatte, weil er sich mit einer Lauge das Gesicht verätzt und schrecklich ausgesehen hatte.
Konstanze schossen sofort wirre Gedanken durch den Kopf: Otward ist nicht nach Hause gekommen. Es muss etwas Schreckliches geschehen sein. Nachdem sie schon unseren Diederich mit ihrem Didrik verwechselt haben, ist nun auch Otward anstelle unseres Lodewig umgebracht worden. Jetzt gibt es keine Zeugen mehr. Aber was ist, wenn der Unhold die Verwechslung merkt?
Nur der Gedanke, dass der Totengräber ertrunken zu sein schien, beruhigte sie etwas. Mit aller Gewalt versuchte sie, ihre Sorgen hinunterzuschlucken, was aber nur in eine unangenehme Hustenattacke mündete. Diesen Kirchenbesuch würde sie den Opsers und deren Kindern, ganz besonders aber ihren eigenen Kindern, Lodewig und Diederich, widmen. Am liebsten würde sie jetzt sofort zum Färberhaus gehen, um sich nach dem Befinden der braven und gottesfürchtigen Handwerkerfamilie zu erkundigen. Sie brauchte endlich Gewissheit.
*
Die Menschen staunten nicht schlecht, als sie gewahr wurden, dass Konstanze und Eginhard die alte Weidenflechterin in ihre Mitte genommen hatten, sich mit ihr im Gang vor dem mächtigen Kruzifix verneigten und sie dann links in die erste Reihe geleiteten. Als Konstanze die leeren Reihen sah, tuschelte sie mit Eginhard, der unauffällig die freien Plätze zu zählen begann und wieder nach hinten zum Portal ging. Es war ihm irgendwie unangenehm, dass ihm dabei wieder alle Blicke folgten.
Als Eginhard vor der Kirche auf der obersten Stufe der Portaltreppe stand, klatschte er in die Hände und rief: »Liebe Leute!«
Er wartete, bis die wegen des starken Schneefalls eng aneinander gedrückten Menschen zu schwatzen aufgehört hatten, bevor er mit ruhiger Stimme fortfuhr: »Auf Geheiß des Kastellans können siebenundzwanzig von euch in den herrschaftlichen Bankreihen Platz nehmen. Wählt sorgsam aus und berücksichtigt Alte und Gebrechliche. Auf den Schoß genommene Kinder zählen nicht mit. Aber klärt es hier draußen. Ich werde mitzählen und euch dann hinein geleiten! … Ach, noch etwas: Diejenigen, die es treffen wird, bitte ich darauf zu achten, dass die Samtpolster nicht beschmutzt werden.«
»Die gepolsterten Plätze des Grafen?«, entfuhr es einem der Wartenden ungläubig.
»Ja! Heute sind es eure Plätze«, bestätigte Eginhard in einem gönnerhaften Ton.
Da rief einer von hinten: »Stellt euch in Familiengrüppchen zusammen, damit aus jeder Familie jemand zum Zuge kommen
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