Die Pestspur
Schützling des Kastellans, war einer der wenigen Männer, die nicht feige abgehauen waren und unversehens mitten ins Geschehen gedrängt wurden. Die beiden kannten sich seit ihrer Jugendzeit, die sie teilweise gemeinsam in Immenstadt verbracht hatten. Da Otto in Ellhofen – einer anderen Ecke des Allgäus – aufgewachsen war, kannte er Land und Leute im ganzen Umfeld recht gut. Er war beileibe nicht dumm und besaß darüber hinaus ein gesundes Maß an Bauernschläue, die ihm schon oft weitergeholfen hatte. In der Nähe von Immenstadt war er zunächst Stallbursche gewesen, hatte sich danach aber beim Bechtelerbauern in Staufen zum ersten Knecht hochgearbeitet. Dort auf dem schmucken Hof war der klein gewachsene, hagere Mann mit dem verschmitzten Dauergrinsen, so etwas wie ein Faktotum. Ein Sonderling – gewiss, aber offen, ehrlich und überaus fleißig. Er wurde nicht nur auf dem Bauernhof, sondern auch im Dorf von allen geschätzt. Otto konnte sogar ein bisschen lesen, nur mit dem Schreiben haperte es. Der Kastellan hatte ihm eingebläut, dass ›Knecht‹ ein rechtschaffener Beruf war, auf den er ruhig stolz sein könne. Das hatte das Selbstvertrauen des kauzigen Bauernknechtes gewaltig wachsen lassen.
Nachdem Otto immer wieder hin- und hergeschubst worden war und das wüste Treiben auf dem Markt beim besten Willen nicht mehr mit ansehen konnte, stieg er mutig auf einen Schlachtbock, auf dem kurz zuvor noch Hühnern die Krägen abgeschlagen worden waren, bevor sie die Besitzer gewechselt hatten.
»Seid ihr alle verrückt geworden? … Beruhigt euch!«, rief er mit aller Kraft in die Menschenmenge hinein und fuchtelte mit seinen Händen herum wie ein Marktschreier. »Ihr braven Frauen. Nehmt doch endlich Vernunft an!«, rief er immer wieder.
Aber es nützte nichts, die Situation war längst eskaliert. So war es kein Wunder, dass Otto unversehens vom Schlachtbock heruntergezogen wurde und sich einen schmerzhaften Schlag mit einer gusseisernen Pfanne einfing, der ihn für ein paar Minuten besinnungslos werden ließ.
Den beiden Immenstädter Wachsoldaten erging es ähnlich; auch sie versuchten immer wieder, die Menge zu beruhigen. »Im Namen des Grafen: Hört endlich auf damit!«
Im allgemeinen Handgemenge gelang es ihnen trotz ihrer Uniformen nur für eine kleine Weile, ihre Autorität durchzusetzen. Dennoch versuchten sie immer wieder, die streitende Menschenmenge auseinander zu bringen, indem sie sich mitten in den wild um sich hauenden und schreienden Pulk warfen, um die Gemüter zu besänftigen. Da ihnen dabei ihre Kopfbedeckungen heruntergeschlagen wurden, waren sie in dem Getümmel nicht mehr auf Anhieb als Soldaten der Königsegger Garde zu erkennen. Somit bekamen sie anstatt des gebührenden Respektes nur noch Knuffe und Rempler, sie wurden hin- und hergeschoben und fingen sich sogar auch noch etliche schmerzhafte Schläge und Kratzer ein. Immer wieder wurden sie mehr oder weniger versehentlich zu Boden gezogen, wo sie ebenfalls Hiebe erhielten oder ihnen sogar Haare ausgerissen wurden. Nur wenn sie als Soldaten erkannt wurden, besannen sich die kopflosen Menschen und ließen von ihnen ab. Aber es nützte nichts: Sie waren mitten in dem Gewühl und wurden, so oft sie auch aufstanden, um kraft ihres Amtes im Dienste des Grafen für Ruhe zu sorgen, immer wieder zu Boden gedrückt.
In dem wüsten Gerangel bemerkte lange Zeit niemand, dass einer der Wachsoldaten nicht mehr aufgestanden war. Erst als die Menschen dies so nach und nach erkannten, begann sich die Szenerie zu beruhigen. Schnell bildete sich ein Kreis um den auf der Erde liegenden Gardisten. Die bisherige Aggression wich zunehmender Betroffenheit, die von den Umstehenden zunächst durch einmütiges Schweigen demonstriert wurde.
»Ist der etwa tot?«, wollte ein heftig schnaufendes Weib, deren Brüste im Eifer des Gefechts entblößt worden waren, wissen.
»Das siehst du doch!«, antwortete ein Händler, der nicht mehr wusste, wo er zuerst hinschauen sollte.
»Um Gottes willen!«, entfuhr es einem anderen Mann, der krampfhaft seine letzte Gans umklammert hielt. Er hatte noch nicht gemerkt, dass diese ebenfalls schon längst ein Opfer des Getümmels geworden und erdrückt worden war – zumindest ließ dies ihr hängender Kopf erahnen.
»Wer hat das getan?«
»Ich nicht!«
Bei diesem wiederkehrenden Frage-Antwort-Spiel war nicht die Gans, sondern der Wachmann gemeint.
*
Otto hatte von alledem nichts mitbekommen. Gerade erst war er
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