Die Pestspur
wieder aufgewacht. Er hielt sich den schmerzenden Kopf und prüfte mit der Zunge, ob noch alle Zähne an ihrem Platz waren. Als er den Wachsoldaten mit einer Mistgabel zwischen den Rippen vor sich liegen sah, erschrak er zwar im ersten Moment, blieb aber besonnen und untersuchte den Mann, bevor er vorwurfsvoll in die Runde schaute und aufstand. Alle Blicke hingen nun an ihm, der die Situation bewundernswert meisterte.
»Holt den Medicus!«, empfahl ein ramponiert aussehendes Mädchen.
»Der braucht keinen Arzt mehr«, winkte Otto ab. »Dieser könnte höchstens den Tod feststellen.«
Obwohl dies bereits klar gewesen war, kapierten die Menschen erst jetzt so richtig, was sie getan hatten. Frauen und Männer falteten gleichermaßen die Hände und beteten mehr für ihr eigenes Seelenheil als für das des toten Mannes.
»Ob der Tod des Gardisten absichtlich herbeigeführt worden ist, ob es ein Unfall oder gar ein kaltblütiger Mord war, kann ich nicht sagen«, beschied Otto den Umherstehenden, die jetzt aufgeregt darüber zu diskutieren begannen.
»Was sollen wir jetzt tun, Dobler?«, fragte der angesehene Ziegenzüchter Hermann Schädler und bat die Leute, etwas zurückzutreten.
»Au weia. Das gibt Ärger«, murmelte Leni, die Frau des Mesners scheinheilig und schlug das Kreuz. Aber war nicht sie es, die das Gerücht über die Pest vom Totengräber übernommen und, mit ein paar deftigen Zutaten gewürzt, verbreitet hatte? Dadurch hatte sie sich zumindest mitschuldig gemacht und war für den Tod des Soldaten mitverantwortlich. Aber dies wusste ja keiner.
Da niemand etwas mit dem Tod des Wachsoldaten zu tun haben wollte, leerte sich der Marktplatz schlagartig. Wie auf Kommando waren alle Frauen verschwunden. Nur noch Otto, ein paar andere Männer und der Kamerad des Toten bekamen das unangenehm knirschende Geräusch mit, als die Mistgabel aus dem Brustkorb herausgezogen wurde. Als einer der Männer das viele Blut sah, wandte er sich ab, um sich zu übergeben.
Otto und der Ziegenzüchter waren die Einzigen, die einen klaren Kopf behalten hatten und sich um den Toten kümmerten.
»Ist das sein Pferd?«, fragte Otto den Kameraden des schlaff vor ihnen liegenden Gardisten, der heulend neben ihm kniete und nur zitternd zu nicken vermochte.
*
»He, du da!«, rief Hermann Schädler einem jungen Burschen zu, der von einer soeben gestohlenen Möhre abbiss.
Da hier in Staufen noch nie jemand etwas von ihm gewollt hatte, blickte sich der Gemüsedieb verdutzt um und zeigte fragend auf sich selbst.
»Wer? … Ich?«, bekam Hermann Schädler von dem jungen Mann zurück.
»Ja, du! … Wer bist du eigentlich?«, mischte sich Otto ein.
»Ich heiße Fabio. Aber wen interessiert das?«, antwortete der wuschelhaarige Dieb, der so um die achtzehn Jahre alt sein mochte, frech.
»Uns!«, blaffte Otto und winkte den Burschen zu sich. »Also, Fabio! Komm her und hilf uns, den Toten über sein Pferd zu legen und festzuzurren.«
»Aber der braucht doch sein Ross nicht mehr. Kann er nicht auf andere Weise zum Friedhof gebracht werden?«
Otto sah dem offensichtlich total verwahrlosten Burschen scharf in die Augen.
Fabio biss in aller Ruhe in seine Möhre, bevor er zu antworten geruhte: »Ist schon gut. Ich meine ja nur.« Der offensichtlich pfiffige Möhrendieb hatte selbst gemerkt, dass nicht gut ankam, was er gerade von sich gegeben hatte. Während er auf Otto, Hermann Schädler und den Toten zuging, fielen ihm etliche Möhren und Äpfel aus den prall gefüllten Taschen. Er hätte über jedes verlorene Stück seines soeben erbeuteten Schatzes heulen können, war aber froh, dass es von niemandem bemerkt worden war, weil alle Blicke auf den Toten gerichtet waren.
Fabio war ein uriger Geselle, der für Geld fast alles tat, wenn es nur nicht in Arbeit ausartete. Allerdings kannte er seine Grenzen. Er hätte niemandem wehtun oder unnötigen Schaden zufügen können. Hier und da ein geklautes Stück Fleisch, vielleicht ein paar Eier und die tägliche Ration Gemüse oder Früchte waren in seinen Augen kein großer Schaden – immerhin riskierte er dafür, aufzufliegen und er wusste, dass man ihm womöglich die Hand abhacken würde, sollte man ihn in flagranti erwischen. Aber was soll ich machen, wenn mein Magen knurrend sein Recht fordert? Ich kann doch nichts dafür, dachte sich Fabio, sooft er seine Hand nach einer verbotenen Frucht ausstreckte.
»Hätte mir der Herrgott nicht diesen verdammten Ranzen gegeben, hätte ich weniger
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