Die Pestspur
respektierte er Mutters Wunsch. Aber nicht nur sie machte sich Gedanken um ihn; auch Lodewig machte sich seit geraumer Zeit Sorgen um seine Mutter. Ihr ständiges Hüsteln, das Zittern und die vielen Schweißausbrüche waren auch ihm nicht verborgen geblieben. So überlegte er hin und her, was er tun sollte. Da es schon nach Mittag war, konnte die Zeit zu knapp werden, um sich für ein Stündchen davonzuschleichen, ohne dass es seine Mutter merken würde. Außerdem wusste er nicht so recht, wie er sich Sarah nähern sollte, ohne Gefahr zu laufen, sich zu blamieren.
Was ist, wenn ich ihr nicht in die Augen schauen kann? Vielleicht lehnt sie mich ab?, befürchtete er und merkte, wie seine Handflächen zu schwitzen begannen. Aber warum sollte sie dies tun? Gestern hat sie mich doch auch angelächelt, rückte er sich die Sache in Gedanken zurecht und erinnerte sich schon wieder an seine Mutter. Also fasste er den schmerzlichen Entschluss, es zu lassen. Aber ihm würde schon noch etwas einfallen, um seine Angebetete schnellstmöglich wiedersehen zu können.
Kapitel 25
Wieder waren ein paar Tage vergangen, und der Totengräber hatte sich immer noch nicht beim Medicus gemeldet. Er blieb verschwunden. Seit sie auf dem Kirchhof ihren schändlichen Plan ausgeheckt hatten, war sein Komplize normalerweise täglich aufgetaucht, um ihn anzutreiben und ihm das Saufen zu verbieten oder einfach nur, um ihn zusammenzustauchen – ob dies nötig gewesen war oder nicht. Eigentlich mochten sich die beiden Halunken nicht besonders. Trauen konnten sie sich gegenseitig ohnehin nicht. Es war nur eine Zweckgemeinschaft im Dienste der Profit versprechenden Sache, die sie zusammenhielt. Obwohl sich die beiden bei Notwendigkeit gegenseitig das Messer in den Rücken stechen würden, machte sich der Medicus mittlerweile ernsthafte Sorgen um seinen ständig nörgelnden Kumpan. Weniger, weil er Angst hatte, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, sondern vielmehr, weil jetzt die Menschen vermehrt damit begannen, ihn zu konsultieren. Das Gerücht, das der Totengräber mittels der Mesnerin hatte ausstreuen lassen, brachte jetzt die Früchte ihrer Verwünschung in greifbare Nähe. Und die wundersame Heilung der Huberbäuerin trug das Ihrige dazu bei. Außerdem geisterte in den Köpfen jetzt unauslöschbar herum, dass es nicht nur in der Weißenbachmühle, sondern auch in Staufen selbst erste Pestopfer gegeben hatte und – das glaubten jetzt alle ganz sicher – dass nicht nur die alte Weißenbachmüllerin daran gestorben war. Kein Wunder also, dass nun in Staufen damit begonnen wurde, Ross und Reiter zu nennen, was nichts anderes hieß, dass jetzt konkrete Namen vermeintlicher Pestopfer gehandelt wurden. Schließlich mochten alle etwas zum allgemeinen Wissensstand beitragen. Wie aus der Sicht einiger Bewohner des Unterfleckens der alte Kesselflicker ›todsicher‹ verstorben war, weil man ihn schon seit etlichen Tagen nicht mehr gesehen hatte, beharrten die im oberen Teil des Dorfes lebenden Leute darauf, dass es ›irgendjemanden im Schloss, wahrscheinlich die Frau des Kastellans‹ – erwischt haben musste, weil … ja, warum eigentlich? Vielleicht hatte sie jemand husten gehört, oder ihr blasses Gesicht gesehen!
*
Nun war es so weit, und das Geschäft lief endlich an: Die Menschen kamen jetzt zunehmend zum Medicus. Sie hatten Angst davor, von der Pest angesteckt zu werden oder den tödlichen Keim gar schon in sich zu tragen. Den ersten eingebildeten Kranken hatte er bereits eines der sorgsam vorbereiteten Kräutersudsäckchen samt Gebrauchsanleitung mitgegeben. Er bemühte sich, alles so aussehen zu lassen, als würde er sich eifrig und selbstlos um die hilflosen Menschen kümmern. Die Patienten, die zum ersten Mal zu ihm kamen, verließen den Behandlungsraum zwar durchweg verunsichert, aber irgendwie zufrieden. Immerhin bekamen sie billige oder – wenn es gar nicht anders ging – sogar kostenlose Medizin und obendrein gute Ratschläge. Da Heinrich Schwartz den Teufel tun würde, sich in die Verbreitung des Gerüchtes einzumischen und sich dadurch der Gefahr einer Urheberschaft des plötzlichen Ausbruchs der Pest auszusetzen, wussten sie auch nach dem Besuch beim Medicus nicht, ob sie nun von der Pest befallen waren oder nicht. Wären die Menschen gebildeter gewesen und hätten mehr über diese Seuche gewusst, wäre ihnen klar gewesen, dass es trotz der Gerüchte und des zunehmend gesundheitlich schlechten Zustandes einiger der
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