Die Pestspur
dahinter, weshalb sie so neben sich selbst stand.
»Irgendetwas plagt sie«, grübelte er laut. Ich glaube nicht, dass sie nur ihre Schwester besucht. Vielmehr denke ich, dass sie Probleme hat und meine Hilfe benötigt, analysierte er die Situation.
Siegbert hielt Wache, und Rudolph lümmelte auf seinem Lager, um sich von der Nachtwache – bei der er die meiste Zeit im Stehen geschlafen hatte – zu erholen.
Es war ein angenehm ruhiger Tag, dem die Sonne zusätzlich ein freundliches Gepräge verlieh.
»Ulrich! … Das Mahl ist fertig!«, rief Konstanze über den Schlosshof.
Die Kinder kamen zuerst angerannt. Nachdem sie die Mutter zum Händewaschen geschickt hatte, ließen sie sich heute so richtig schön Zeit für das Mittagsmahl und genossen die familiäre Harmonie.
»Ich muss der Heiligen Mutter Gottes eine frische Kerze hinstellen.«
»Warum denn schon wieder, Konstanze?«
»Nur so. Weil es uns so gut geht. Bald kommt Eginhard wieder. Ich freu’ mich schon darauf.«
»Toll!«, pflichtete Diederich bei.
»Ja, Weihnachten werden wir heuer ganz besonders festlich feiern«, versprach der Vater, der sich nach dem Essen gemütlich zurücklehnte und sich noch einen Kautabak gönnte, was sonst nur an Sonn- und Feiertagen vorkam.
»Aber ich darf das Fatschenkind vom Dachboden holen und aufstellen?«, forderte Lodewig spaßeshalber sein Recht ein.
»Natürlich! Das war immer schon Aufgabe des stärksten Mannes im Haus«, bestätigte der Vater mit einem Augenzwinkern, während er auf Diederichs Reaktion wartete. Aber der Kleine schmollte nicht. Dennoch wurde ihm die Unterhaltung der Eltern bald zu langweilig, und er ging nach draußen. Lodewig folgte ihm, um seiner Arbeit nachzugehen.
»Aber nicht das Schloss verlassen!«, mahnte die Mutter mit ernster Stimme.
»Sei nicht immer so streng«, schalt sie der Vater mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
»Du weißt, dass unsere Kinder außerhalb des Schlosses in Lebensgefahr schweben«, bekam der Vater schnippisch zur Antwort.
»Das ist nicht auszuschließen«, räumte er ein.
»Wir wissen nach wie vor nicht, was mit Didrik, dem kleinen Sohn der Blaufärber, geschehen ist. Man hat ihn bis heute nicht gefunden«, gab die Mutter zu bedenken.
»Trotzdem: Vielleicht war es ja tatsächlich nur ein bedauerlicher Unfall, und er ist in irgendeine Grube gefallen, die ihr trotz akribischer Suche nach dem Buben nicht gefunden habt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war es so … Außerdem: Wolltest du nicht den schönen Tag genießen, anstatt dich schon wieder mit diesem leidigen Thema herumzuschlagen?«, wollte Ulrich Dreyling von Wagrain seine Frau gleichsam beruhigen und vom Thema abbringen, bevor schon wieder eine endlose Diskussion daraus werden würde. Aber es gelang ihm nicht, weswegen er sagte: »Ich weiß selbst, dass ich mir den Totengräber noch einmal vornehmen müsste … aber mit welcher Begründung? Das letzte Gespräch mit ihm hat nichts ergeben. Außerdem verrichtet er seine Arbeit ordentlich und fällt nicht unangenehm auf.«
Seit der Sache auf dem Markt und dem einen Mal, als er ihn äußerst vorsichtig über Umwege auf die Sache angesprochen und wovon er seiner Frau nichts erzählt hatte, war ihm Ruland Berging nicht mehr begegnet. Also wollte er die Sache zwar im Auge behalten, aber im Moment auf sich beruhen lassen. Und Konstanzes Hirngespinste nahm er nicht allzu ernst. Er war froh, dass im Moment alles ruhig war. Sogar das Pestgerücht schien wieder etwas eingeschlafen zu sein. Und da sollte er jetzt den dörflichen Frieden stören? Ausgerechnet jetzt?
»Und was ist, wenn es doch eine Verwechslung war und Didrik anstelle unseres Kindes umgebracht worden ist, weil der Totengräber und der ominöse Unbekannte geglaubt haben, dass die Söhne des Blaufärbers ihr Gespräch auf dem Kirchhof mitgehört haben?«
»Konstanze! Ich bitte dich. Der Totengräber ist zwar ein undurchsichtiger Halunke. Aber muss er deshalb gleich ein Kindermörder sein? Es gibt keinerlei Anhaltspunkt für eine derartige ruchlose Tat durch ihn, geschweige denn einen Beweis. Ja, nicht einmal eine Leiche. Und außerdem könnte es doch sein, dass sich unsere Söhne verhört und die Dinge durcheinandergebracht haben. Allzu viel haben sie sowieso nicht gehört – oder?«
»Aber seltsam ist die Sache mit Didriks Verschwinden schon, oder?« Wie schon einmal bei einem Gespräch wollte sie ihren Mann provozieren, indem sie das ›oder‹ betonte. Aber es nützte
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