Die Pfeiler der Macht
Leben.
Sein Glück verließ ihn zusehends. In den vergangenen vierundzwanzig Jahren hatte er vier Morde begangen. Dreimal war er ungeschoren davongekommen, doch diesmal war es schiefgegangen. Er hatte am hellichten Tage Tonio Silva erschossen, und Hugh Pilaster hatte es gesehen. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, dem Henker zu entkommen: Er mußte England verlassen.
Plötzlich war er auf der Flucht, ein Gejagter in jener Stadt, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Mit klopfend e m Herzen durcheilte er den Bahnhof an der Liverpool Street, ging patrouillierenden Polizisten aus dem Wege, atmete flach und stoßweise und verschwand in einer Droschke.
Auf schnellstem Wege ließ er sich zum Büro der Gold Coast & Mexico Steamship Company fahren.
Das Büro war voller Menschen, überwiegend südamerikanischer Herkunft. Einige versuchten, nach Cordoba zurückzukehren, andere bemühten sich darum, Verwandte aus dem Land herauszuholen, wieder andere waren nur an den neuesten Nachrichten aus dem Kriegsgebiet interessiert. Es herrschte Geschrei und Durcheinander. Micky konnte es sich nicht leisten, auf die Abfertigung des Gesindels zu warten. Er kämpfte sich zum Schalter durch und machte dabei gegen Männer wie Frauen rücksichtslos von seinem Stock Gebrauch. Seine teure Kleidung und seine Oberklassen-Arroganz erregten die Aufmerksamkeit eines Angestellten. »Ich möchte eine Überfahrt nach Cordoba buchen«, sagte er. »In Cordoba herrscht Krieg, Sir«, erwiderte der Angesprochene. Micky verkniff sich eine sarkastische Bemerkung. »Sie haben aber noch nicht alle Überfahrten eingestellt, wie ich höre.«
»Wir verkaufen Tickets nach Lima in Peru. Wenn die politische Lage es erlaubt, fährt das Schiff von dort aus weiter nach Palma. Die Entscheidung darüber fällt nach der Ankunft in Lima.« Das genügte. Es kam jetzt vor allem darauf an, England so schnell wie möglich zu verlassen. »Wann geht der nächste Dampfer?«
»Heute in vier Wochen.«
Mickys Hoffnung zerstob. »Das ist schlecht. Ich muß früher abreisen.«
»Wenn Sie's ganz eilig haben: Heute abend legt ein Dampfer in
Southampton ab.«
Gott sei Dank! Mein Glück hat mich doch noch nicht ganz im Stich gelassen, dachte Micky. »Reservieren Sie mir die beste Kabine, die noch frei ist.«
»Sehr wohl, Sir. Darf ich Ihren Namen wissen?«
»Miranda.«
»Wie bitte?«
Im Umgang mit ausländischen Namen waren die Engländer völlig hilflos. Micky wollte gerade seinen Namen buchstabieren, als er sich eines anderen besann. »Andrews«, sagte er, »M. R. Andrews.« Vielleicht kam die Polizei ja auf die Idee, die Passagierlisten auf den Namen Miranda zu überprüfen. Damit kam sie jetzt nicht mehr weiter. Micky war heilfroh über die unsinnige Freizügigkeit der britischen Gesetze, die die Ein- und Ausreise ohne Paß gestatteten. In Cordoba hätte er größere Schwierigkeiten gehabt.
Der Angestellte des Reisebüros begann die Fahrkarte auszustellen, und Micky sah ihm dabei zu. Immer wieder rieb er sich die von Hughs Kopfstoß herrührende Prellung im Gesicht. Ihm fiel ein, daß es noch ein weiteres Problem zu bewältigen gab: Es war gut möglich, daß Scotland Yard seine Personenbeschreibung per Kabel in alle Hafenstädte versandte. Dieser verdammte Telegraph! dachte er. Binnen einer Stunde wissen alle örtlichen Polizeistationen Bescheid und nehmen die Passagiere entsprechend unter die Lupe. Ich muß mir eine Verkleidung beschaffen ... Der Mann hinter dem Schalter reichte ihm die Fahrkarte. Micky bezahlte mit Banknoten, drängelte sich ungeduldig durch die Menge und lief hinaus in den Schnee. Er war noch immer in großer Sorge.
Er rief eine Droschke herbei und gab die Botschaft Cordobas als Ziel an. Doch unterwegs überlegte er es sich anders. Es war riskant, sich dort noch einmal blicken zu lassen. Und außerdem hatte er kaum noch Zeit.
Die Polizei würde nach einem gutgekleideten, allein reisenden Herrn von ungefähr vierzig Jahren Ausschau halten. Micky erwog, sich als alter Mann zu verkleiden und in Begleitung zu reisen. Am besten spiele ich den Invaliden und lasse mich in einem Rollstuhl an Bord tragen, dachte er. Aber dazu brauchte er einen Komplizen. Wer kam dazu in Frage? Den Botschaftsangestellten traute er nicht über den Weg - vor allem, weil er inzwischen nicht mehr Botschafter war. Edward fiel ihm ein.
»Zur Hill Street!« befahl er dem Droschkenkutscher. Edward wohnte in einem kleinen Haus in Mayfair, das er - im Gegensatz zu
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