Die Pfeiler der Macht
Mantels berührten, sagte er: »Ich kann ohne dich nicht leben, liebe Augusta.«
Er spürte, wie sie unter seiner Berührung erbebte. Mit zittriger
Stimme erwiderte sie: »Ich könnte deine Mutter sein, so alt bin ich.« Seine Lippen streiften über ihre Wange. »Aber du bist es nicht«,
flüsterte er ihr ins Ohr. »Du bist die begehrenswerteste Frau, die mir je begegnet ist. Ich habe mich all diese Jahre nach dir gesehnt, du weißt es doch. Und jetzt ...« Er ließ die Hand von ihrer Taille emporgleiten, bis sie fast den Busen berührte. »Und jetzt verliere ich bald die Kontrolle über meine Hände ... Augusta ...« Er hielt inne.
»Was ist?« fragte sie.
Er hatte sie fast soweit. Aber noch nicht ganz. Er mußte seinen letzten Trumpf ziehen.
»Jetzt, da ich nicht mehr Botschafter bin, kann ich mich von Rachel scheiden lassen.«
»Was sagst du da?«
»Willst du mich heiraten?« flüsterte er ihr ins Ohr. »Ja«, sagte sie. Er küßte sie.
April Tilsley, elegant herausgeputzt mit Fuchspelz und scharlachroter Seide, platzte in Maisies Büro im Female Hospital. Sie schwenkte eine Zeitung in der Hand und rief aufgeregt: »Hast du schon gehört, was passiert ist?«
Maisie erhob sich. »April! Was, um alles in der Welt, ist denn los?«
»Micky Miranda hat Tonio Silva erschossen!« Wer Micky war, wußte Maisie sofort. Bei Tonio mußte sie einen Augenblick nachdenken, ehe ihr einfiel, daß er in ihrer Jugendzeit zum Kreis der jungen Männer um Solly und Hugh gezählt hatte. Er war ein Spieler gewesen. April hatte ihn eine Zeitlang sehr gemocht - bis sie herausfand, daß er seine spärliche Barschaft immer wieder beim Wetten durchbrachte. »Hier, es steht in der Nachmittagsausgabe«, erläuterte April. »Aber warum nur?«
»Das Motiv wird nicht erwähnt. Aber weißt du, was noch drinsteht ...« April zögerte. »Setz dich erst mal wieder hin, Maisie.«
»Warum? Nun sag schon!«
»Die Polizei möchte ihn auch noch wegen drei anderer Morde verhören - Peter Middleton, Seth Pilaster und ... Solomon Greenbourne.«
Maisie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Solly!« sagte sie und fühlte sich auf einmal ganz schwach. »Micky hat Solly getötet? Ach, Solly, armer Solly!« Sie schloß die Augen und barg ihr Gesicht in den Händen.
»Du brauchst einen Schluck Brandy«, sagte April. »Wo steht er?«
»Wir haben hier keinen«, erwiderte Maisie und versuchte sich zu sammeln. »Gib mir mal die Zeitung.« April reichte sie ihr.
Maisie las den ersten Absatz. Die Polizei, so hieß es dort, fahnde nach Miguel Miranda, dem ehemaligen Botschafter von Cordoba. Er solle wegen der Ermordung Antonio Silvas vernommen werden.
»Armer Tonio«, sagte April. »Er war einer der nettesten Männer, für den ich je die Beine breit gemacht habe.«
Maisie las weiter: Die Polizei suchte Miranda auch, um ihn wegen der Ermordung des Windfield-Schülers Peter Middleton im Jahre
1866 und des damaligen Seniorchefs des Bankhauses Pilaster, Seth Pilaster, im Jahre 1873 zu befragen. Auch stehe er im Verdacht, im Juli 1879 den Bankier Solly Greenbourne in einer Nebenstraße des Piccadilly vor eine fahrende Kutsche gestoßen zu haben. »Seth Pilaster auch? Das war doch Hughs Onkel!« Maisie war aufgeregt.
»Warum hat er diese Männer umgebracht? Warum nur?«
»Über das, was dich wirklich interessiert, erfährst du aus den Zeitungen sowieso nie was«, meinte April.
Der dritte Absatz ließ Maisie zusammenfahren. Die Schießerei hatte im Nordosten von London stattgefunden, in einem Dorf namens Chingford unweit von Waltha m stow. »Chingford!« stöhnte sie.
»Nie gehört ...«
»Aber da wohnt doch jetzt Hugh!«
»Hugh Pilaster? Weinst du dem immer noch nach?«
»Das muß etwas mit Hugh zu tun haben, siehst du das denn nicht? Das kann doch kein Zufall sein! O Gott im Himmel, ich hoffe, ihm ist nichts passiert!«
»Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, würde es doch in der Zeitung stehen, denke ich.«
»Das ist doch erst ein paar Stunden her. Sie wissen es vielleicht noch gar nicht.«
Maisie hielt die Ungewißheit nicht aus. Sie stand auf. »Ich muß herausfinden, wie es ihm geht.«
»Wie willst du das anstellen?«
Maisie setzte ihren Hut auf und steckte eine Nadel hinein. »Ich fahre zu ihm hinaus und sehe nach.«
»Seine Frau wird nicht gerade begeistert sein.«
»Seine Frau ist ein paskudniak.« April lachte. »Was ist denn das?«
»Ein Miststück.« Maisie zog sich ihren Mantel an. Auch April wandte sich zum Gehen. »Meine Kutsche
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