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Die Pfeiler der Macht

Die Pfeiler der Macht

Titel: Die Pfeiler der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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furchtbar aus«, sagte der Bahnbeamte. Hugh schluckte hart und kämpfte mit der Übelkeit, die in ihm aufstieg. Es kostete ihn Überwindung, seine Hand in Tonios Mantel zu schieben, um nach dem Herzschlag zu tasten. Wie erwartet, war nichts mehr zu spüren. Er mußte an den lustigen, frechen Jungen denken, mit dem er damals, vor vierundzwanzig Jahren, in jenem Badeteich im Bischofswäldchen herumgeplanscht hatte, und empfand eine tiefe Trauer, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb.
    Mit erschreckender Klarheit erkannte Hugh jetzt, wie Micky diesen Mord geplant hatte. Wie jeder halbwegs kompetente Diplomat verfügte Micky über gute Kontakte im Außenministerium. Auf einem Empfang oder einer Dinnerparty mußte ihm einer dieser Freunde gestern abend ins Ohr geflüstert haben, daß Tonio sich in London aufhielt. Da Tonio seine Akkreditierungsschreiben bereits vorgelegt hatte, wußte Micky, daß seine Tage als Botschafter gezählt waren. Anders verhielt es sich, wenn Tonio etwas zustieß: Dann gab es niemanden mehr in London, der für Präsident Garcia verhandeln konnte, und Micky würde de facto Botschafter bleiben. Das war seine einzige Chance - nur mußte er schnell handeln und ein hohes Risiko auf sich nehmen, denn ihm blieben höchstens ein oder zwei Tage Zeit.
    Wie hatte Micky herausgefunden, wo Tonio sich aufhielt?
    Vielleicht hatte er ihm Spione nachgeschickt; vielleicht hatte er aber auch von Augusta erfahren, daß Tonio sich bei ihr nach Hughs Verbleib erkundigt hatte. Auf jeden Fall war er Tonio nach Chingford gefolgt.
    Hughs Haus zu suchen, hätte bedeutet, zu viele Leute ansprechen zu müssen. Aber es war ja klar gewesen, daß Tonio früher oder später zum Bahnhof zurückkehren mußte. Also hatte er sich in der Umgebung des Bahnhofs herumgedrückt und sein Opfer dort abgepaßt. Er wollte Tonio und alle Tatzeugen umbringen und mit dem Zug entkommen.
    Micky befand sich in einer verzweifelten Lage, und sein Plan war voller Risiken - doch um ein Haar hätte alles geklappt. Aber dann hatte die Rauchwolke aus der Lokomotive ihm die Sicht auf sein zweites Opfer - Hugh - genommen. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte niemand den Mörder erkannt. In Chingford gab es weder eine Telegrafenstation noch ein Telefon, geschweige denn ein Verkehrsmittel, das schneller gewesen wäre als die Bahn. Lange bevor die Polizei von seinem Verbrechen erfahren hätte, wäre Micky wieder in London gewesen. Auch hätte ihm mit Sicherheit einer seiner Angestellten ein Alibi verschafft. Aber der Anschlag auf Hugh war fehlgeschlagen. Und Micky hatte seine diplomatische Immunität verloren, da er, formal gesehen, nicht mehr Botschafter seines Landes war. Für diesen Mord konnte er gehängt werden.
    Hugh erhob sich. »Wir müssen so schnell wie möglich die Polizei informieren«, sagte er.
    »Die nächste Polizeiwache ist in Walthamstow, ein paar Stationen weiter Richtung London.«
    »Wann geht der nächste Zug?«
    Der Eisenbahner zog eine große Uhr aus der Westentasche und sagte: »In siebenundvierzig Minuten.«
    »Wir sollten beide mitfahren. Sie gehen zur Polizei in Walthamstow, und ich fahre in die Stadt und benachrichtige Scotland Yard.«
    »Aber dann ist niemand mehr auf dem Bahnhof! Ich bin heute allein, weil doch Heiligabend ist.«
    »Ihr Chef erwartet gewiß von Ihnen, daß Sie Ihren Bürgerpflichten nachkommen.«
    »Da haben Sie auch wieder recht.« Der Mann schien dankbar dafür zu sein, daß ihm jemand sagte, was er zu tun hatte. »Wir müssen den armen Silva irgendwohin schaffen. Gibt es im Bahnhof eine Möglichkeit?«
    »Allenfalls im Wartesaal.«
    »Gut, dann tragen wir ihn dorthin und schließen den Raum ab.« Hugh beugte sich nieder und faßte die Leiche unter den Armen.
    »Nehmen Sie die Beine!«
    Gemeinsam schleppten sie Tonio in den Bahnhof und legten ihn im Wartesaal auf eine Bank. Dann standen sie unschlüssig herum und wußten nicht, was tun. Hugh war unruhig. Er konnte nicht um Tonio trauern; es war einfach noch zu früh. Er wollte es auch gar nicht, kam es doch zunächst darauf an, den Mörder dingfest zu machen. Er ging nervös auf und ab, sah alle paar Minuten auf die Uhr und strich sich über die Beule an seinem Kopf. Der Bahnbeamte saß auf der Bank gegenüber und starrte in angstvoller Faszination die Leiche an. Nach einer Weile setzte Hugh sich neben ihn, und so verharrten sie dann, teilten still und wachsam den kalten Wartesaal mit dem Toten. Schließlich kam der Zug.
     
    Micky Miranda floh um sein

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