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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Davies
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als wir die Scherben im Flur zusammenkehrten und das kaputte Fenster mit Plastiktüten und Reißnägeln abdichteten.
    Schließlich standen wir uns lächelnd an der notdürftig reparierten Tür gegenüber. Trotz des Einbruchs war mir seltsam leicht zumute.
    »So viel Verlorenes«, sagte sie nachdenklich. »Warum machst du dich nicht selbst auf die Suche?«
    Ich schüttelte langsam den Kopf.
    »Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Die Spur hat sich vor zweihundert Jahren verloren. Und außerdem ist Anderson ein Profi. Der weiß, was er tut.«
    Diese Worte kamen mir wieder in den Sinn, als ich gegen Morgen endlich ins Bett fand. Es war ein unmögliches Unterfangen, zweifellos. Doch Andersons Selbstgewissheit ließ mir keine Ruhe. Konnte es sein, dass er Recht hatte? Konnte es sein, dass der Vogel tatsächlich in irgendeiner unbekannten Sammlung überlebt hatte, unberührt seit den Tagen Kapitän Cooks und Joseph Banks’? Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen, versuchte, mir zu sagen, dass mein Leben weitergegangen war. Doch Anderson wusste es besser. Er wusste, dass ich etwas nicht zu Ende gebracht hatte, dass ich nie einen Fund gemacht hatte wie den, der ihm vorschwebte. Der Rätselhafte Vogel von Ulieta. Der verschwundene Vogel. Es wäre der außergewöhnlichste Fund, den man sich überhaupt vorstellen konnte.
    Ich hätte schlafen sollen, aber in meinem Kopf rotierte es weiter, und als die Nacht dem grauen Licht der winterlichen Morgendämmerung wich, merkte ich, dass ich noch eine einzige schwache Hoffnung hatte. Sie gründete sich auf etwas, das Anderson unmöglich wissen konnte. Nachdem ich einen Entschluss gefasst hatte, war ich imstande, mich ins Bett zu schwingen. Dabei sah ich, dass das Foto auf dem Nachttisch umgefallen war, als wäre jemand dagegengestoßen. Vorsichtig stellte ich es wieder auf und betrachtete es einen Moment. Dann löschte ich das Licht, aber es wurde nicht dunkel im Zimmer.
     
     
     
    Drei Tage später ging sie wieder zu der Lichtung, auf der Banks sie hatte zeichnen sehen. Es war ein herrlicher Tag. Der Himmel war strahlend blau, und die Sonne brannte auf ihrer Haut. Sie fand den herabgefallenen Ast wieder, auf dem sie gesessen hatte, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Boden zu ihren Füßen. Ohne größere Vorbereitungen begann sie zu zeichnen. Während sie arbeitete, traten aus der Stille des Waldes leise Geräusche hervor - das Plätschern des Bachs, das Schwirren unsichtbarer Vögel.
    Sie hatte erkannt, dass sie nur im Wald die sein konnte, die sie wirklich war. Als Tochter ihres Vaters hatte sie sich vor der Welt, in der sie lebte, schützen müssen. Hier aber war diese Welt nur noch ein flüchtiger Hauch im Wind.
    Sie hörte ihn nicht kommen. Als seine Stimme die Stille durchbrach, fuhr sie erschrocken herum.
    » Lichen pulmonarius «, sagte er nur. Ihr Blick wanderte zum Rand der Lichtung, dorthin, wo er stand. »So heißt die Flechte an den Bäumen im Slipper Wood«, fügte er hinzu.
    Er trat ins Sonnenlicht hinaus, und sie sah ihn lächeln. Die Bäume hinter ihm waren tiefgrün. An diesen Augenblick, an dieses Lächeln sollte sie sich später stets erinnern.
    »Die haben Sie sich eben angesehen.« Seine Stimme verriet keinen Zweifel. »Sie wächst nur an den Bäumen, die Sie betrachtet haben, sonst nirgendwo.«
    Er blieb vor ihr stehen, und sein Lächeln war Gruß und Herausforderung zugleich. Sein Hemd war am Hals offen, sein Haar ungekämmt, und in der Hand schwang er einen ledernen Sammelbeutel. Noch nie hatte sie einen so lebendigen Menschen gesehen.
    »Den lateinischen Namen kenne ich nicht«, erwiderte sie. »›Lungenflechte‹ nennt man sie hier. Sie ist anders als die Flechten ringsum. Aber Sie irren sich, wenn Sie glauben, dass sie nirgendwo sonst in diesen Wäldern vorkommt.«
    »So?« Er stellte seinen Beutel auf den Boden und sah sie wieder an. Sie war sitzen geblieben und erwiderte seinen Blick. Bei seinem Auftauchen war sie errötet, doch jetzt war nichts mehr davon zu bemerken. Wieder schien es ihm, als hätte er, bevor er sie ansprach, eine andere gesehen als die, die jetzt vor ihm saß. Nur die grünen Augen waren dieselben geblieben.
    »Ich war überzeugt, ich hätte jeden Baum genauestens in Augenschein genommen«, sagte er.
    Seine Gedanken weilten bei jener anderen, dem jungen Mädchen, das da allein im Wald so hingebungsvoll zeichnete. Später, in Ländern, in denen die Menschen nicht gelernt hatten, ihre Lebensfreude zu verbergen,

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