Die Pflanzenmalerin
aschfahl, und die Wangenknochen traten stärker hervor, als zöge er sich nach und nach aus dem Leben zurück. Der Arzt wusste, dass auch sie es bemerkt hatte; er sah es an der Art, wie sie ihren Vater berührte, sanft jetzt, als liebkoste sie ihn. Er hatte gelernt zu erkennen, wann ein Mensch beginnt, Abschied zu nehmen.
»Doktor«, flüsterte sie, »es ist möglich, dass mein Vater nicht wieder gesund wird, nicht wahr?«
»Ja, das ist leider möglich.« Er wünschte, sie hätte eine Mutter, die sie in den Arm hätte nehmen können. »Die Wunde an seinem Kopf ist tiefer, als für das Auge zu erkennen war.«
»Wie lange noch?« Ihre Stimme klang schwächer, als er sie je zuvor vernommen hatte.
»Das kann ich nicht sagen. Andere haben in seinem Zustand noch viele Wochen gelebt oder sind gar wieder genesen. Sie müssen ihn gut pflegen und zusehen, dass er es bequem hat.«
»Das werde ich. Und...« Doch keiner von beiden vollendete den Satz, und nach wenigen weiteren Worten empfahl sich der Arzt.
Sie war bereits daran gewöhnt, allein umherzuwandern. Am Tag nach dem Besuch des Arztes stand sie am Waldrand und ließ die Sonne ihr Gesicht wärmen, als könnten ihre Strahlen jeden Gedanken fortstreicheln. Sie spürte das raue Gras an ihren Fingerspitzen und ließ diese Empfindung ganz in sich ein. Sie prägte sich das Muster der Blätter auf dem Waldboden ein, die jungen Bäume, die sich dem Licht zuwandten. Und um all das für immer festzuhalten, um die Leere in ihrem Innern damit zu füllen, nahm sie ihren Stift und zeichnete.
5
Ein Bild
Dass die Geister der Vergangenheit Menschen faszinieren, ist etwas ganz Normales. Man braucht nur sonntags einen Blick in die staatlichen Archive zu werfen: Scharenweise forschen die Leute dort nach ihren Vorfahren, zeichnen anhand von Namen und Daten die Schatten von Menschen nach, die sie nie wirklich finden können. So einer war auch Hans Michaels, nur ging es bei ihm um Vögel, nicht um Menschen.
Dass ich ihn kennen lernte, war reiner Zufall. Er schrieb mir, nachdem er einen Artikel von mir über den Brillenkormoran gelesen hatte, und da man üblicherweise nicht viele Briefe zum Brillenkormoran bekommt, verfasste ich eine ziemlich lange Antwort. Einige Monate später lud er mich ein, ihn zu besuchen und mir einige seiner Forschungsarbeiten anzusehen. Es war eine demütigende Erfahrung. Ich war der Profi und er der Amateur, aber zu den zwei oder drei Arten, auf die er sich spezialisiert hatte, war er auf Quellen und Hinweise gestoßen, die mir völlig unbekannt waren. Ich blieb den ganzen Nachmittag bei ihm, und seine Frau brachte von Zeit zu Zeit Tee, um uns dann wieder allein zu lassen. Freimütig und vorbehaltlos erbot er sich, mir seine Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen, froh darüber, jemanden gefunden zu haben, der seine Interessen teilte. Zu dem Zeitpunkt war mir allerdings schon klar, dass ich nie publizieren würde, und seine Großzügigkeit war an mich verschwendet. Als ich ging, fragte er mich noch nach dem Ulieta-Vogel. Ich sagte ihm, was ich wusste, und er nickte und erzählte mir von einer Idee, die er zurzeit verfolge, aber ich hörte damals gar nicht richtig zu. Doch diese beiläufige Bemerkung hielt mich nun bis Tagesanbruch wach, und ich fragte mich, was er so Vielversprechendes herausgefunden haben mochte.
Am nächsten Morgen war ich früh auf. Ich hatte nur eine Stunde geschlafen, aber meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, und es war leichter, aufzustehen und etwas zu tun. Nachdem ich geduscht und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, war ich klar im Kopf und erstaunlich munter. Es war ein kalter Morgen, es roch nach Herbst, und die Luft lag frisch auf meiner Haut. Auf den Straßen herrschte bereits dichter Verkehr, doch ich stieg aufs Motorrad und stürzte mich Richtung Süden ins Gewühl.
Hans Michaels wohnte in einer roten Backsteinvilla südlich von Guildford. Unterwegs hielt ich an, um zu frühstücken, und hatte dann einige Mühe, das Haus zu finden. Trotzdem klingelte ich schon um kurz nach zehn an seiner Tür. Seine Frau schien sich nicht verändert zu haben. Ihre Stimme hatte noch denselben ein wenig schroffen Klang, als sie mich von drinnen aufforderte zu warten, und nachdem sie die Riegel zurückgeschoben hatte, wirkte das Gesicht, das aus der Tür spähte, genauso wach und intelligent, wie ich es in Erinnerung hatte.
»Mein Name ist Fitzgerald«, stellte ich mich vor für den Fall, dass sie sich nicht mehr an mich erinnern konnte.
Weitere Kostenlose Bücher