Die Pflanzenmalerin
hier, aber die Papiere sind General Winters überbracht worden, und morgen bei Tagesanbruch breche ich auf, um wieder zum Regiment zu stoßen.
Dein Brief ist mir durch ganz Frankreich gefolgt und hat mich erst vor zwei Tagen erreicht. Was für eine traurige Nachricht! Der alte Mann war eine große Persönlichkeit und uns beiden ein guter Freund. Ich bin froh, dass er friedlich einschlafen durfte. Er hat es verdient.
Wie gut, dass du so umsichtig warst, seinen kostbaren Vogel in Sicherheit zu bringen. Du weißt ja, dass ich mich schon immer brennend dafür interessiert habe. Auch ohne die Verbindungen zu Cook und Banks und sogar ohne seine spätere Geschichte wäre er das ungewöhnlichste und romantischste Objekt, das man sich vorstellen kann.
Sobald mir ein längerer Besuch möglich ist, werden wir beide ihn in allen Einzelheiten beschreiben und unsere Beschreibung an das Natural History Museum schicken. Es ist nur recht und billig, dass man dort über die Existenz eines für die Wissenschaft einmaligen Objekts unterrichtet wird. Bis dahin hüte den Vogel wie deinen Augapfel - ich möchte bei meiner Rückkehr nicht erleben, dass dein junger Vulpes ihn mir entrissen hat!
Mein kurzer Blick auf London hat mir unendlich gut getan. Meine Stimmung könnte nicht besser sein, und ich bin sicher, meine Aufgabe wird nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen, sodass ich bald zu dir zurückkehren kann.
Bis dahin grüße alle von mir.
Dein Dich liebender Bruder
John
Als Katya zu Ende gelesen hatte, sahen wir uns über den Tisch hinweg an. Sie saß ganz still, aber ich spürte ihre Anspannung.
»Der Ulieta-Vogel«, sagte sie leise. »Den meint er doch, oder?« Ihr Gesicht war eine einzige Frage.
»Könnte sein.«
Ein wenig ungeduldig sah sie auf den Brief hinab.
»Wieso könnte? Ein für die Wissenschaft einmaliges Objekt... Verbindungen zu Cook und Banks... Das muss er sein.«
»Nein, er könnte es sein. Und der Brief könnte das sein, was Anderson so in Aufregung versetzt hat. Er wäre ja verrückt, nach einem ausgestopften Vogel zu suchen, den seit zweihundert Jahren niemand mehr gesehen hat. Aber nach einem, der vor achtzig Jahren noch heil und unversehrt war...«
»Dann muss er auch zu finden sein!« Sie umklammerte meinen Arm. »Das bedeutet, dass wir genauso gute Chancen haben wie er!«
Ich hob die Hand. Ich wollte den Ball flach halten.
»Moment mal. Seit 1914 ist viel passiert: Luftangriffe, Erbschaftssteuern, feuchte Wände... Sicher ist gar nichts.«
»Aber damals war er noch intakt...«
»Ja, wenn er sich so lange gehalten hat, besteht die Möglichkeit, dass er noch existiert. Anderson scheint jedenfalls davon auszugehen. Aber wenn der Brief sein berühmter Anhaltspunkt ist, wer hat ihn uns dann zukommen lassen? Dass Anderson selbst es getan hat, nur um keinen unfairen Vorsprung zu haben, kann ich mir nicht vorstellen.«
Katya hielt die Fotokopien noch immer vor sich, als könnten sie meine Zweifel abwehren. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Wer hat sonst noch davon gewusst?«
Ich musste sofort an Gabriella denken. Sie hatte versprochen, alles, was sie fand, an mich weiterzugeben, und es sah so aus, als hätte sie Wort gehalten. Im Moment war sie irgendwo in Deutschland, aber ihr Regenmantel hing noch an der Tür. Ich nahm Katya die Kopien ab.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie.
»Ganz einfach: Ich fahre nach Stamford und versuche herauszukriegen, ob die echt sind.«
»Sehr gut.« Sie strahlte. »Ich komme mit.«
Am nächsten Morgen brachen wir auf. Da wir nun zu zweit waren, musste ich das Motorrad stehen lassen, aber Geoff aus dem Hammer And Sickle hatte ein Auto, das ich mir des Öfteren auslieh, ein rostiges kleines Gefährt von der Farbe einer ausgebleichten Zitrone. Es war noch dunkel, als wir jeder eine Tasche packten und dann losfuhren, um uns in den Londoner Verkehr einzufädeln, gerade rechtzeitig zur Rushhour.
Wir kamen nur langsam voran, waren aber aufgekratzt wie kleine Kinder. Es schüttete, man sah kaum etwas, und wegen des Quietschens der Scheibenwischer mussten wir schreien, um uns zu verständigen. Das Radio ging nicht, und die Heizung wurde gerade so warm, dass die Scheiben nicht beschlugen. Am Stadtrand kapitulierten wir, fuhren an den Rand und zogen unsere Mäntel an. Katyas war lang und schwarz; der hochgeschlagene Kragen rahmte ihr Gesicht ein. Meiner war alt und abgetragen, und ich sah darin aus wie ein Statist aus Doktor Schiwago . Unter dem
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