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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Davies
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Beziehungen, aber ich wüsste etwas... eine Familie... Kinder unterrichten...«
    Sie blickte auf.
    »Sie wissen ja, wie über mich geredet wird. Diese Familie könnte mich gar nicht nehmen. Es wäre unmöglich.« Sie sprach leise, scheinbar ohne Gemütsbewegung.
    Der Arzt nickte erneut.
    »Es tut mir Leid«, sagte er, doch welcher Aspekt der Welt ihm Leid tat, sagte er nicht.
    Als er im Begriff stand, das Haus zu verlassen, legte ihm Martha, die Pflegerin, mit einer Geste zur Küche hin die Hand auf den Arm.
    »Im Dorf will niemand mehr auf ihren Vater anschreiben«, sagte sie leise.
    »Das tut mir Leid.« Er zögerte. Er war kein reicher Mann, und er hatte selbst Familie. Dass man ihren Vater aber würde begraben müssen, weil er verhungert war, das würde er nicht zulassen. Es konnte sich ohnehin nur noch um Tage handeln. »Dann lassen Sie auf meinen Namen anschreiben«, sagte er und trat in den frostigen Morgen hinaus.
     
    An diesem Abend saß sie in ihrem Zimmer im Dunkeln und dachte an die Frage, die ihr der Arzt gestellt hatte. Sie hatte die Läden geöffnet, vom Fenster her drang die Kälte auf sie ein. Jenseits der Scheibe schien der Halbmond auf die Wiese, die große Baumgruppe aber war in Dunkelheit gehüllt. Auf dem Gras glitzerte schon der Raureif. Sie fröstelte und zog ihr Schultertuch höher. Sie wusste, dass es nur eine Antwort auf die Frage des Arztes gab, eine, um deretwillen viele sie glücklich preisen würden. Doch als sie so allein dort saß und alles einem Ende entgegenging, war ihr nicht viel daran gelegen.
    Einen Moment lang stellte sie sich vor, wie Joseph Banks durch den südlichen Sommer segelte, und es machte sie glücklich, daran zu denken, glücklich, dass er, anders als sie, nicht der Umklammerung der Kälte ausgesetzt, nicht durch die langen dunklen Stunden eingeengt war. Da der Verlust ihres Vaters nun so nahe und so greifbar bevorstand, war sie zum ersten Mal froh über Banks’ Verlobung, froh, dass er sein Glück gefunden hatte. In diesem Augenblick, während sie zu den dunklen Bäumen hinübersah, begriff sie, welches Geschenk ihr Vater ihr damit gemacht hatte, dass er sich so beharrlich ans Leben klammerte. Er hatte ihr Zeit geschenkt. Zeit, die Wälder und den Sommer zu genießen, ehe ihre Welt auseinander brach, Zeit, ein klein wenig zu lieben, Zeit, ihren Verlust zu begreifen, sodass der große, leere Schmerz, den sie bei seinem Tod empfinden würde, einer war, den zu ertragen sie schon gelernt hatte.
     
    Joseph Banks lag der Gedanke an den Winter in Lincolnshire fern. Unter den lächelnden braunen Menschen der Südsee hatte er eine neue Seite an sich und einen neuen Wert entdeckt. Wo seine Mitreisenden Fremdheit und Barbarei sahen, sah er nur Männer und Frauen. Und wo die Insulaner an Cooks Offizieren eine unnatürliche Steifheit wahrnahmen, bemerkten sie an Banks eine Aufgeschlossenheit, die sie von sich selbst kannten. Ohne je die Unterschiede der Erziehung und Erfahrung zu unterschätzen, erkannte Banks bald, dass sich ein scharfer Verstand nicht auf die weißen Gesichter um ihn herum beschränkte, dass Ehrgefühl und Charakterstärke nicht allein für die Besatzung der Endeavour zählten. Fasziniert und begeistert öffnete er sich rückhaltlos diesen Menschen, die so anders waren als er und ihm zugleich so ähnlich.
    Wie die Menschen, so verzauberte ihn auch die fremde neue Welt um Urwald und Riff. Nie wurde er müde, das wechselnde Licht auf dem Wasser zu betrachten, die Farben und Geräusche der Inseln zu bestaunen. Der Botaniker in ihm war überwältigt von der Vielfalt und Fülle, die auf ihn einstürmten. Seine Sammlung von Pflanzen, Vögeln und anderen Tieren wuchs und wuchs, und eines Tages erkannte er, dass sich etwas Einzigartiges, nie Dagewesenes in seinem Besitz befand.
    Er erzählte ihr nie von dem Abend in Otaheite, als der Gedanke an sie so machtvoll von ihm Besitz ergriff. Sie waren zu einem Festmahl geladen, es wurde getanzt, und er hatte im Mittelpunkt gestanden, hatte zusammen mit den anderen gelacht, gejohlt und in die Hände geklatscht. Als er einmal innehielt, um Atem zu schöpfen, erblickte er zwischen den Palmen hindurch das Mondlicht auf dem Meer, und ohne zu überlegen stahl er sich fort, an den Rand des Wassers. Dort verharrte er, seltsam losgelöst von dem Lärm hinter ihm, und plötzlich nahm er die Laute der Nacht wahr: den Wind in den Bäumen, das Summen der Insekten, das Rauschen der Wellen, die sich weit draußen an Fels und Riff

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