Die Pforte
Hinter der Tür hallten laute Stimmen durch den Hauptflur.
Wie war es möglich, dass sie am Leben war und wieder zurück in Border Town? Sie hatte doch festgeschnallt auf einem Tisch gelegen und war immer wieder grausam gefoltert worden, umzingelt von Feinden, an irgendeinem abgelegenen Ort in der tiefsten Wildnis. Wie war sie innerhalb von drei Tagen von diesem Ort in ihr Schlafzimmer gelangt, wie konnte sie splitternackt mit einem Typen herumstehen, der ihr völlig unbekannt war und der noch nie von Tangent gehört hatte?
Ob ihr Vater auch überlebt hatte?
Ein Gedanke, bei dem spontan Hoffnung in ihr aufkeimte, aber auch Furcht, Gefühle, die sie resolut zurückdrängte, um sich nicht ablenken zu lassen. Sie postierte sich zur Tür hin und fixierte dann den Fremden.
«Feuern Sie nur auf Ziele, auf die ich bereits feuere», sagte sie, «es sei denn, jemand eröffnet zuerst das Feuer auf Sie.»
Der Typ bemühte sich erst gar nicht, seine Verwirrung zu kaschieren, und zuckte nur gleichmütig mit den Schultern.
Sie musterte ihn noch einen Moment lang. Er sah garnicht übel aus. Dann wandte sie den Kopf um und ging zur Tür hinüber, atmete tief durch, öffnete sie und trat hinaus in den Flur.
Menschen rannten durch den Flur, ausschließlich Tangent-Mitarbeiter, offenbar in heillose Verwirrung gestürzt durch die Explosionen, aber mehr noch, überlegte Paige, durch die Gedächtnisstörung, die ihnen allen widerfahren war. Nur ein paar Bewaffnete befanden sich darunter – Kommandoangehörige offensichtlich –, die aber ebenfalls völlig planlos wirkten und nicht wussten, was genau sie tun sollten.
Falls sie mit ihrer – lückenhaften – Vermutung richtiglag, hatten all diese Leute gerade drei Tage in ihrer Erinnerung übersprungen. Drei Tage. Das Intervall, das durch den Jump Cut zeitweilig gelöscht wurde. Wie war es möglich, dass das gesamte Gebäude davon betroffen war?
Und wie hatte Pilgrim das bewerkstelligt? Denn dass sie gerade von seinen Leuten angegriffen wurden, davon war auszugehen. Wahrscheinlich war sogar Pilgrim selbst mit von der Partie.
Die Wirkung des Jump Cut, das war das Gute, hielt nur wenige Minuten lang an. Doch bestimmt wusste Pilgrim das und hatte entsprechend vorausgeplant. Er würde alles daransetzen, in diesen wenigen Minuten die Kontrolle über Border Town zu übernehmen.
Weiter hinten im Flur war dichter Rauch zu sehen, der durch die Türritzen der Aufzüge gequollen kam. In dem Moment gab es eine weitere Explosion, irgendwo in den oberen Etagen, die die Wände erzittern ließ. Leute zuckten zusammen, schauten ängstlich zur Decke hoch, als befürchteten sie, dass sie einstürzen könnte. Durchausmöglich. Paige fiel auf, dass einige der Leute sie anstarrten, als wäre sie ein Gespenst. Was sie in gewisser Weise durchaus nachvollziehen konnte, nur leider war jetzt keine Zeit, sich länger damit aufzuhalten.
Was müsste Pilgrim unternehmen, um im Handstreich die Kontrolle an sich zu reißen?
Die Antwort war einfach. Das Nervenzentrum des Gebäudes, die Sicherheitszentrale, befand sich direkt unter der Abwehrzentrale. Dank dem Flüstern, das er fraglos gerade dabeihatte, würde er die Codes für alle Sicherheitssysteme im Gebäude kennen. Systeme, die ohne weiteres gegen sie eingesetzt werden konnten.
Sie wandte sich einer Gruppe von Bewaffneten ganz in ihrer Nähe zu, um sie zu sich zu rufen und dann mit ihnen die Treppe hochzulaufen. In etwa einer Minute könnten sie die Sicherheitszentrale erreichen. Doch ehe sie etwas sagen konnte, drangen aus der Lüftungsanlage in der Decke Schwaden von weißem Gas. Kurz dachte sie, die automatische Feuerlöschanlage hätte sich eingeschaltet und angefangen, Halon durch die Lüftung zu pumpen. Dann aber nahm sie den Geruch wahr.
Das war kein Halon.
Natürlich. Natürlich würde Pilgrim dieses System in Gang setzen. Einfacher ging es im Grunde gar nicht.
Sie schnellte herum, überlegte noch, ob sie die anderen in ihre Wohnung scheuchen sollte, begriff aber gleichzeitig, dass das nichts nutzen würde; auch dort kam ja das Zeug aus der Lüftung. Sie schaute die Leute der Reihe nach an, einen nach dem anderen – bei manchen zeigte das Gas bereits Wirkung –, bis ihr Blick auf dem Gesicht des Fremden hängenblieb, warum auch immer. Er hatte sich gut im Griff, trotz der Verwirrung, die ihn zweifellosplagte, und machte einen ruhigen, gefassten Eindruck. Abermals rätselte sie, wer er wohl sein mochte.
Da merkte sie, wie ihr die
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