Die Pforten der Ewigkeit
rittlings auf einem Balken habe sitzen sehen, will ich sofort tot umfallen.«
Sie lächelte schief. Er blinzelte ihr zu mit Lidern, die sich anfühlten, als bestünden ihre Innenseiten aus Glassplittern.
Dann wandte er sich an Walter. »Danke«, flüsterte er. »Danke, mein Alter.«
Walter nickte.
»Nächstes Mal rettest du aber zuerst wieder mich und dann erst Godefroy«, sagte Rogers. Er grinste. »Ich hoffe, er hat wenigstens … mitgeholfen …?«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Walters Augen feucht waren. Es durchfuhr ihn wie ein Ruck. Er kam auf die Beine und sackte sofort wieder auf die Knie. Seine Schultern schmerzten; er konnte nicht einmal die Arme heben.
»Godefroy?«, stieß er hervor.
Walter schüttelte den Kopf. Fassungslos sah er ihn an, dann in Schwester Elsbeths Gesicht. Auch sie schüttelte den Kopf. Rogers’ Blicke flogen zu Marquard. Der alte Mann schüttelte als Dritter den Kopf, dann brach er in Tränen aus.
10.
WIZINSTEN
Elsbeth kniete in dem Raum in der Ruine des alten Benediktiner-Klosterbaus, der als Kapelle diente, und versuchte zu beten. Einmal mehr wollte sich keine Andacht einstellen; einmal mehr zweifelte sie an ihren Plänen und daran, ob Gott irgendetwas gutheißen konnte, das sie tat. Sie sehnte sich so sehr nach Papinberc und Sankt Maria und Theodor zurück, dass sie sich innerlich krümmte. In Papinberc und in der Gegenwart von Lucardis hätte sie vielleicht beten können: O Herr, ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen, vergib mir, vergib mir, vergib mir …
Mea culpa, mea maxima culpa.
Hier in diesem gemeinen, kahlen Raum, in dem die Verwahrlosung mit Händen zu greifen war, blieb ihre Seele stumm vor Entsetzen.
Wie die Felswand plötzlich abgerutscht war! Ohne Vorwarnung, von einem Moment zum anderen. Wie der Staub in die Höhe geschossen war! Wie es gedonnert und gebrüllt hatte! Wie Walter erschrocken gerufen hatte und von dem Ruck an den Tauen, an denen er Rogers und Godefroy gehalten hatte, von den Beinen gerissen und durch das Gras geschleift worden war! Wie der alte, lahme Marquard versucht hatte, ihm zu helfen, und wie sie eines der Taue hatten loslassen müssen, um sich dann zu zweit in das andere zu stemmen! Wie …
… o Herr, wie sie gedacht hatte: Bitte lass es nicht Rogers’ Tau sein, das sie aufgegeben haben!
… wie der Ausleger des Krans direkt neben ihr auf den Boden gekracht war; zwei Schritte weiter links, und er hätte sie erschlagen. Und wie …
… und wie nach so wenigen Augenblicken, dass sie noch nicht einmal Atemnot verspürt hatte, obwohl sie vor Entsetzen die Luft angehalten hatte, alles wieder vorbei gewesen war und nur noch der aufgewühlte See und der riesige Staubpilz in der Luft davon gezeugt hatten, dass soeben eine Katastrophe geschehen war, dass ein Menschenleben ausgelöscht worden war und eines am seidenen Faden hing.
Mea culpa, mea culpa, mea culpa .
Sie hatten Rogers retten können; wenigstens das. Erneut fühlte Elsbeth die Erinnerung an ihre Erleichterung wie einen schalen Geschmack aufsteigen. Unbarmherzig stellte sie sich die Frage, ob sie auch Kopf und Kragen riskiert hätte, wenn Godefroy der Mann am Seil gewesen wäre, doch dann fürchtete sie sich davor, die Antwort darauf zu suchen. Stattdessen kam der Gedanke wieder, dass Rogers nur durch ein paar Mauern getrennt in ihrer Zelle lag, und die Scham darüber, dass sich in all dem Schrecken, der geschehen war, ganz zart der Nachgeschmack jenes einen Kusses meldete, den sie in Colnaburg gegeben und empfangen hatte. Was für ein Ungeheuer war sie, dass sie sich wünschte, den Kuss erneut spüren zu können, während Godefroy unter Hunderten von Tonnen Gestein auf dem Grund des Sees lag?
Er würde mir die Angst davor nehmen, wie es nun weitergehen soll, dieser Kuss , dachte sie.
Er würde mir helfen, die Tränen zu weinen, die ich weinen sollte und die ich unterdrückt habe, um kein Zeichen der Schwäche zu geben oben auf dem Galgenhügel, und die sich nun nicht mehr lösen wollen und mich ersticken .
Er würde mich erlösen, dieser Kuss , dachte sie. Er würde den Kreis schließen.
Sie wusste, dass er zugleich einen neuen Kreis einleiten würde. Sie wusste, dass es diesmal nicht beim Kuss bleiben würde. Sie wusste, wie sie sonst kaum etwas in ihrem Herzen wusste, dass Rogers der Mann war, der sie und die Katharer damals in der Kirche in Colnaburg vor den Soldaten beschützt hatte.
Natürlich hieß dies auch, dass Rogers, Walter und Godefroy
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