Die Pforten der Ewigkeit
Wasser gischtete um ihn herum auf, der Staub traf ihn wie mit Schlägen. In seine Schultern zuckte ein scharfer Schmerz, als der Ruck sie ihm beinahe auskugelte. Er war blind, er war taub, er hatte das Gefühl zu ersticken …
… und dann war alles still. Er hing mit beiden Händen am Seil, das Blut lief ihm von den Handflächen über die Arme in die Achselhöhlen, seine Hände brannten, als hätte er sie ins Feuer gehalten. Das Ende des Seils pendelte vor seinen Augen. Wenn er auch nur einen Wimpernschlag später zugegriffen hätte, wäre es ihm durch die Finger geglitten. Er blinzelte. Unter sich hörte er das Wasser schwappen und gegen die Felswand prallen. Er starrte nach unten. Es fehlten noch drei oder vier Mannslängen zum Wasser, doch er fühlte sich, als wäre er so weit gefallen, dass er nur noch zollbreit über dem See hing. Er starrte nach oben. Es war so viel Staub in der Luft, dass er wie in dichtem Nebel hing. Halb betäubt versuchte er am Seil zu rucken, doch seine Schultern protestierten. Er konnte nur daran hängen, ein totes Gewicht, und sich wundern, dass er noch lebte.
Seine Hände rutschten ein paar Zoll ab. Er packte fester zu. Falls er gedacht hatte, dass der Schmerz in seinen Handflächen nicht mehr schlimmer werden konnte, sah er sich getäuscht. Er stöhnte.
Auf einmal hörte er die Stimme seiner Mutter, von weit entfernt, als riefe sie ihn aus ihrem Versteck, das er nicht kannte und das ihm zu verraten sein Vater nicht gewagt hatte. »Rogers?« Nein, es war seine Schwester – Adaliz, die sich stets darauf verließ, dass ihr großer Bruder für jedes Problem eine Abhilfe kannte. »Rogers!« Nein, es war auch nicht Adaliz …
»Hier!«, krächzte er.
»O mein Gott – Rogers! Bist du verletzt? O mein Gott!«
»Schwester Elsbeth?«
»Walter, du musst ihn nach oben ziehen. Schnell – o Himmel, Mann, das muss man doch in jeder Sprache verstehen …!«
»Rogers!«
Rogers räusperte sich. »Walter? Ich kann mich nicht mehr lange halten.«
»Was?«
Rogers klaubte in seinem Gehirn nach den Worten in der nordfranzösischen Sprache des Engländers. Seine Hände standen in unsichtbaren Flammen, und seine Schultern lösten sich langsam aus dem Gelenk. »Du musst mich hochziehen. Ich kann mich nicht mehr lange …«
»Rogers! Der Ruck hat den Kran ruiniert! Sämtliche Umlenkrollen sind zerschmettert. Du musst dich irgendwo festhalten, dann versuche ich das Seil auszufädeln.«
»Zieh einfach … zieh doch einfach …« Rogers hustete. Allmählich klärte sich die Luft vom Staub, und seine Ohren hörten auf zu schmerzen. Er hörte Geschrei von der Baustelle. Aber bis die ersten Arbeiter hier oben eintrafen, würde Rogers längst vom Seil abgerutscht sein. Der See schäumte noch immer wie im Sturm. Mit seinen lädierten Schultern würde er nicht schwimmen können. Er würde untergehen wie ein Stein, wenn er sich nicht vorher alle Knochen brach an dem auf dem Wasser schaukelnden Treibgut beim Sturz aus dieser Höhe. Keuchend sah er nach oben, sah die Gesichter von Schwester Elsbeth und Walter ganz klein, Meilen weit weg an der Spitze des höchsten Bergs der Erde. Er sah auch, was Walter ihm verschwiegen hatte: Der Kran wäre ums Haar abgestürzt. Irgendwie hatte Walter es geschafft, dies zu verhindern, aber der Ausleger hatte sich geneigt und ragte nun weit über den Abbruch hinaus. Von seiner Spitze hing das Seil, an dessen unterem Ende Rogers baumelte – viel zu weit draußen, als dass Elsbeth oder Walter es zu fassen bekommen hätte.
»Na wunderbar«, hörte er sich murmeln. In seinen Unterarmen baute sich ein Krampf auf, der fast so schmerzhaft war wie die aufgerissenen Handflächen.
»Ich kann nicht hochklettern«, flüsterte er. »Ihr müsst mich raufziehen.«
»Rogers!«, rief Walter herunter. »Du musst hochklettern. Hörst du mich, Rogers? Du musst hochklettern!«
»Leck mich, Walter!«, brüllte er zurück. Er sah sich um. Alle Flüche, die er jemals gehört hatte, drängten sich auf seine Zunge. Wenn er das Seil zum Pendeln brachte, bis ihn der Schwung zur Felswand trug … der Felssturz hatte die Wand vollkommen zerklüftet zurückgelassen, ein Kind hätte sich daran festhalten können … ein Kind, aber nicht ein Mann, dessen sämtliche Sehnen in den Armen entweder gedehnt oder gerissen waren und dessen Hände sich in rohes Fleisch verwandelt hatten … er hörte jemanden schluchzen und stellte fest, dass er es gewesen war. Erbittert biss er die Zähne
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