Die Pforten der Ewigkeit
hatte Jutta dazu bringen können, zu Gabriel zu gehen? Und wer würde die Judasbotschaft in Latein schreiben? Es blieb niemand übrig außer den Nonnen. Hatte es eine der jungen Frauen gestört, dass ihre diaconissa die meiste Aufmerksamkeit auf das halbverrückte Stück mit den ketzerischen Visionen verwandt hatte? Hatte sie darum versucht, Rogers zu vernichten, wissend, dass sie Schwester Elsbeth damit am meisten traf? Meffridus wäre nicht er gewesen, wenn er nicht längst gewusst hätte, dass Elsbeth und Rogers ein Paar gewesen waren. Aber woher hätte eine der Nonnen wissen sollen, dass Gabriel in Staleberc gewesen war? Nur er selbst hatte das gewusst, nur er selbst.
Dass er das Rätsel nicht lösen konnte, beunruhigte Meffridus. Wenn ihn etwas beunruhigte, wurde er wütend. Sein Zorn klang erst ab, als er von weitem Constantia in der Menge derer erblickte, die zur Baustelle geeilt waren. Er dachte daran, sie nachher zu besuchen, und er lächelte in sich hinein.
Er hätte es nie zugegeben, aber auf seine Weise liebte Meffridus sein Spielzeug namens Constantia Wiltin von Herzen.
REFORMATIO
SPÄTSOMMER BIS HERBST 1252
»Wenn es je einen Mann gegeben hat, der für den Weg zur Vollkommenheit bestimmt war, dann du.«
Sariz de Fois
1.
EBRA
Als Constantia aus dem Wald herauskam und zum ersten Mal die Baustelle des Klosters Ebra vor sich liegen sah, wurde ihr bewusst, wie ähnlich im Grunde genommen die Lage Ebras und Wizinstens waren. Beide waren in einem Talkessel errichtet, von hohen, bewaldeten Hügeln umgeben, beide lagen an Straßen, die sich zwar bei ihnen kreuzten, aber im Wesentlichen daran vorbeiführten. Doch wo im Falle Wizinstens der Talgrund weit und licht war, war er, was Ebra betraf, eng. Die Hänge waren steil, und die Bauhütten zogen sich an ihnen in die Höhe, weil nirgendwo genügend Platz war. Wenn man es genau nahm, hatten sich die Zisterziensermönche von Ebra einen Ort ausgesucht, der viel mehr nach locus horrori aussah als Wizinsten. Wenn man es noch genauer nahm, waren sich die Ebraer darüber im Klaren und bildeten sich so viel darauf ein, dass sie den weiten Weg von den Regeln von Cîteaux zur benediktinischen Selbstzufriedenheit schon wieder zurückgegangen waren.
Selbst wenn sie nicht notgedrungen über Schwester Elsbeth so viel vom Bau eines Klosters mitbekommen hätte, wäre es Constantia klar gewesen, dass etwas mit Ebra nicht stimmte. Die Klosterkirche dominierte die Baustelle, aber sie war nicht eingedeckt und hockte in ihrem Gerüst wie von Spinnweben überzogen. Die unteren Reihen des hellen Steins waren bereits nachgedunkelt und mit Moos und Flechten überzogen – der Bau zog sich hin, wie Constantia gehört hatte, seit beinahe fünfzig Jahren. Wer ein Auge dafür hatte, ahnte auch, weshalb. Das nördliche Querschiff der Kirche mündete in eine kreuzförmige Kapelle, deren Basis so schlicht angefangen hatte, wie es auch aus Elsbeths Plänen zu erkennen war, aber dann waren die Bauherren von ihrer eigenen Hybris überwältigt worden. Sie hatten auf das wuchtige Kreuz des Untergadens ein Pultdach gesetzt und darauf einen hohen Lichtgaden mit schmalen, rundbogigen Lanzettfenstern, gedrungenen Wandpfeilern mit kleinen Fialtürmchen und einem Satteldach. Über der Vierung ragte ein unauffälliger Turm auf; ganz wie es zisterziensischer Baukunst entsprach. Doch die Nordwand der Kapelle wies eine mächtige Fensterrose auf, die sich am anderen Ende des Gesamtbauwerks, über dem Eingang der nicht fertiggestellten Klosterkirche, wiederholte. Hier war sie noch nicht viel mehr als eine runde Auslassung in der Wand, das Maßwerk noch nicht eingepasst – man konnte durch es hindurch die Rosette in der Kapelle sehen und dass sie mit buntem Glas gefüllt war.
Wenn Constantia es richtig verstanden hatte, bevorzugten die Zisterzienser opake weiße Fenster – es ging ihnen darum, dass Licht die Kirche füllte. Hier sah sie nun, was geschah, wenn die Bauherren auf halber Strecke aus den Augen verloren, woher sie gekommen waren, und die ursprüngliche Pragmatik von Cîtaux mit der Verspieltheit eines neuen Baustils mischten, nur weil sie genug Geld dafür hatten.
Geld, das ihnen mittlerweile ausgegangen zu sein schien. Constantia hatte es bereits geahnt, weil den Sommer über immer mehr Arbeiter auf der Baustelle in Wizinsten aufgetaucht waren und weil die Steine aus dem Steinbruch immer schleppender und seit einiger Zeit gar nicht mehr abgeholt worden waren. Selbst die
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