Die Pforten der Ewigkeit
das Wappen von Kaiser Federico.
Ramons Brauen zogen sich zusammen. Das Kästchen schien plötzlich schwerer geworden zu sein.
»Herr, darf ich wieder gehen? Ich habe versprochen, mit Johannes Wilt und seiner Frau für Constantias Seele zu beten.«
»Wie? Natürlich, natürlich. Vielen Dank.«
Ramons achtete kaum darauf, dass Ella knickste und den Raum verließ. Langsam wog er das Kästchen in den Händen und starrte es an.
»Deswegen«, sagte eine Stimme von der Tür her, »habe ich Ella gebeten, es zu Euch zu bringen. Ich habe das Wappen erkannt.«
Ramons blickte auf. Elsbeth stand in der Türöffnung und lächelte ihn an. »Ich musste nur noch Rogers und Ulrich holen.«
Es war nicht der Kreuzgang gewesen, dessen Zusammenbruch Ramons und Godefroy gespürt hatten. Er hatte gehalten. Wilbrands Kirchenbau war stattdessen in sich zusammengefallen, und zwar auf eine Weise, dass sich um den Nordflügel des Kreuzgangs herum eine Art Wall gebildet hatte, der das meiste Wasser abgelenkt hatte. Rogers, Elsbeth, Walter und die anderen hatten die Gelegenheit genutzt und waren auf das höher gelegene, trockene Gelände der Stadt entkommen, wo sich inzwischen diejenigen, die nach der Flucht aus der Kirche entkommen waren, bewaffnet und zusammengerottet hatten. Nur das Wasser hatte verhindert, dass sie den Kreuzgang gestürmt hatten. Sie brachten Decken und trockene Kleidung und erhitzten Wein und alle Vorräte, die eigentlich für die Heilige Nacht vorgesehen gewesen waren. Dann hatte Wizinsten unter freiem Himmel und Nieselregen gemeinsam mit den Zisterzienserinnen, einer Ketzerfamilie, einem ehemaligen Johanniter und einem Engländer, von dem niemand wusste, woran er glaubte, das Wunder der Geburt Christi und das noch größere Wunder ihrer Rettung gefeiert und um ihre Toten geweint. Der See war weiterhin wie ein neuer Wasserfall über den Damm geschossen, die ganze Nacht lang. Gegen Morgen hatte die Wut des Wassers nachgelassen, als das Niveau der Seeoberfläche unter den Gang gesunken war, den Rudeger gegraben hatte. Noch war die ehemalige Baustelle ein einziger neuer See, dessen Ränder in der Kälte zuzufrieren begannen und aus dessen Mitte der Kreuzgang als einziges stehen gebliebenes Gebäude ragte wie eine Insel. Die meisten Toten würden noch irgendwo dort unter Schlamm, Trümmern und Schlick begraben sein – die Soldaten, die getöteten Wizinstener, Gabriel … vermutlich auch Rudolf von Habisburch. Die Leichen von Meffridus Chastelose und Constantia Wiltin waren gefunden worden. Das Wasser hatte sie mitgenommen und beim alten Wachturm liegen gelassen. Sie waren beide in Meffridus teuren Pelzmantel eingewickelt gewesen, als hätten sie im Tod zueinander gefunden, und so hatte man sie auch beerdigt.
»Was glaubst du, was das ist?«, fragte Rogers.
»Was glaubst du denn?«, fragte Ramons. Er warf Rogers das Kästchen zu. »Mach es auf.«
»Die Ehre gebührt dir …«
»Lass den Unsinn und mach es auf!«
Rogers warf Ulrich von Wipfeld einen Seitenblick zu. Graf Ramons hatte dem ehemaligen Knappen Hertwigs die Schwertleite verliehen, nachdem sie ihn aus dem bischöflichen Gefängnis in Papinberc befreit hatten. Hartmann und Äbtissin Lucardis hatten dafür gesorgt, dass er nicht misshandelt worden war. Ulrich zuckte mit den Schultern. Elsbeth strich Rogers über den Arm und nickte ihm aufmunternd zu.
Nach einigem Stochern und moderater Gewaltanwendung schnappte plötzlich ein im Kästchen verborgener Riegel, und der passgenau eingefügte Deckel sprang einen Spalt weit auf. Rogers stieß den Atem aus. Er stellte das Kästchen auf den Tisch und öffnete den Deckel.
Sie spähten alle vier hinein – Ramons, Rogers, Elsbeth und Ulrich.
Nach einigen Augenblicken sah Elsbeth auf. Ihre Blicke trafen sich mit denen Rogers’.
»Wahrscheinlich ist es besser so«, sagte sie.
Rogers nahm das Kästchen und drehte es auf den Kopf, als könne er das kleine Ding damit überreden, doch noch etwas preiszugeben. Das Kästchen war leer.
Ramons grinste plötzlich. Dann lachte er. Er lachte immer lauter. Rogers stimmte in sein Lachen ein, dann Elsbeth, zuletzt Ulrich. Das Lachen schallte aus dem Fenster im Saal des Bürgermeisterhauses und hinaus auf die Klostergasse, hallte von den Wänden der Häuser wider und erhob sich über die Stadt, die Baustelle und das Tal. Es war das Lachen von Menschen, die am Ziel ihrer Suche angekommen sind und festgestellt haben, dass das Ziel in Wahrheit der Anfang ist.
In jedem Geheimnis
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