Die Pforten der Ewigkeit
Hund.«
Die Lanze zuckte herab. Dann verharrte sie eine Elle über dem Herzen des Sterbenden. Rogers starrte seine Faust an. Er hatte zugepackt, ohne nachzudenken. Der Mann riss an seiner Waffe. Rogers riss in die andere Richtung. Der Mann ließ die Lanze los. Rogers warf sie beiseite.
»Er hat noch was zu sagen«, hörte er sich knurren.
Der Mann war sprachlos. Sein Mund klappte auf und zu. In dem Ring aus Menschen um sie herum erspähte Rogers den Dorfhelden mit seiner hatta und dem waffenstarrenden Gürtel. Er grinste und ermaß Rogers mit kühlen Augen.
»Ich bring den Christenhund um!«, röhrte der Käufer von Alice und Hertwig und zerrte sein Schwert erneut aus dem Gürtel.
»Der kostet dreißig Denare!«, warf der persische Händler ein.
»Er hat die Hand gegen einen Gläubigen erhoben! Er ist nicht mehr dein. Er hat sein Leben verwirkt. Der Christ soll sterben!«
Gemurmel erhob sich, das meiste davon zustimmend. Der persische Händler sah sich um. Sein Gesicht wurde rot, dann blass. Vor ein paar Augenblicken hatte er noch gefeixt; jetzt musste er erkennen, dass hierherzukommen sich für ihn zu einem Verlust auswuchs.
»Ich bin kein Christ«, sagte Rogers.
»Kreuzigt ihn!«, schrie eine Stimme aus der Menge. »Das ist die Strafe für einen Christen und Sklaven!«
Rogers zuckte nicht einmal. Stimmen wie diese waren ihm nicht fremd. Jede Kultur besaß sie … jede Stadt … jede Meute, die auf der Straße zusammenlief. Zu Hause hatte er sie brüllen gehört: Verbrennt die Ketzer!
»Rogers …«, stöhnte Hertwig.
Hände streckten sich nach Rogers aus. Er wehrte sie ab. »Schnell! Was ist die Botschaft, Hertwig?«
Jemand packte ihn an den Haaren. Er hörte wütendes Gebrüll und drosch die Faust hinein, ohne hinzusehen. Das Gebrüll verwandelte sich in ein Jaulen. Dann waren es zu viele, und Rogers wurde gepackt und auf die Beine gezerrt. Jemand legte ihm einen Strick um den Hals, jemand schlug ihn in den Bauch, jemand zog ihn am Strick wieder in die Höhe, als er in die Knie ging. Er sah die verzerrten Mienen Godefroys und Walters, die immer noch hilflos auf dem Boden kauerten, jeweils ein Messer ihrer Bewacher an der Kehle. Er sah das Gesicht des Dorfhelden. Der Kerl machte eine gezierte Bewegung vor der Stirn und nickte gelassen. Dann rissen sie Rogers fort.
Zurück blieb Hertwig von Staleberc, eine Hand in die Luft gestreckt, als wolle er Rogers festhalten. Sein Mund arbeitete. Der persische Händler stand neben ihm und starrte ihn finster an. Dann bückte er sich, hob die Lanze auf, die immer noch dort lag, und rammte sie ihm ins Herz. Die Hand sank herab. Der persische Händler spuckte auf die Leiche, ließ Godefroy Arbalétrier und Walter Longsword fesseln und folgte dann dem Mob, der Rogers de Bezers, den Sohn von Ramons Trencavel, dem einst mächtigsten Grafen des Langue d’Oc, Erben von Carcazona, Albi und Razès, dem Hüter der Glaubensgemeinschaft der Katharer, davonschleppte, um ihn zu kreuzigen.
6.
NAMENLOSES KAFF IRGENDWO IN TERRA SANCTA
Bei einer alten Korkeiche außerhalb des Ortes machten die Dörfler halt und rangen Rogers zu Boden. Die Eiche streckte Äste nach allen Seiten aus. Dem stärksten von ihnen fehlte an mehreren Stellen die Borke, wo man in der Vergangenheit Stricke darübergezogen hatte, um einen Verurteilten zu hängen. Das rote Holz unter der Borke gemahnte an frisch geschlagene Wunden. Zwei Männer zerrten einen krummen Balken herbei. Zwei andere schleuderten Stricke über den Ast der Korkeiche. Rogers erkannte, was sie vorhatten: Sie würden seine Arme an den Balken fesseln, dann würden sie den Balken am Galgenbaum hochziehen, bis Rogers’ Beine frei in der Luft hingen – und hätten dann mindestens für den Rest des Tages eine sinnvolle Beschäftigung, nämlich ihm, Rogers de Bezers, beim langsamen Ersticken zuzusehen.
Er bäumte sich auf. Die Hände seiner Peiniger rutschten ab und packten dann noch härter zu. Er trat mit den Füßen um sich. Der Mann, der Hertwig von Staleberc tödlich verletzt hatte, drängte herbei und setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf Rogers’ Unterleib, hob die Fäuste und schlug ihn ins Gesicht.
Rogers hatte eine Vision. Tatsächlich war sie eine Erinnerung an etwas, das vor zehn Jahren geschehen war. Erneut sah er sich bei der gescheiterten Befreiung von Carcazona.
Die Felder vor der Porta Narbona waren ein Sumpf, durch den sich die einstmals bunt gekleideten Soldaten von Graf Ramons Trencavel quälten.
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