Die Pforten der Ewigkeit
Rogers’ Vater hatte beschlossen, die Stadt, die seine Väter errichtet und befestigt hatten und die den Trencavels während des Albigenserkreuzzugs weggenommen worden war, zurückzuerobern. Er hatte darauf gesetzt, dass die Mauerarbeiten, die Simon de Montfort, der große Feind der Gläubigen und militärische Anführer des Kreuzzugs, begonnen hatte, um die Stadt gegen genau diese Situation zu verteidigen, noch nicht allzu weit gediehen wären. Und er hatte gehofft, dass die Bevölkerung Carcazonas ihm und dem wahren Glauben treu geblieben war, auch nach der Besatzung durch die königlichen Truppen. Was den ersten Fall betraf, hatte Graf Ramons den Eifer der katholischen Soldaten und Festungsbauer unterschätzt. Was den zweiten Fall betraf, so verzögerte des Grafen Rücksicht auf die Bürger der Stadt die Belagerung, weil er den Einsatz von Katapulten und Steinschleudern verboten hatte, um unnötige Zerstörungen in Carcazona zu vermeiden. Und so krochen die Soldaten durch den Schlamm, braun wie die Erde, verklebt, verdreckt, stinkend; man hätte voller abergläubischer Ehrfurcht meinen können, die Erde selbst sei in Wallung geraten und habe Krieger geboren, wenn man nicht gesehen hätte, wie unendlich mühsam die Männer sich vorwärtskämpften und wie erschöpft sie waren. Graf Ramons und die Herren, die er um sich versammelt hatte, betrachteten die Situation mit verbissenen Gesichtern von dem im Schlick festgefahrenen Belagerungsturm aus, den sie als Feldherrnhügel nutzten. Die Soldaten folgten einer doppelten Taktik, die sich der Graf ausgedacht hatte: In Richtung auf die Porta Narbona zu versuchten die Männer eine große Ramme voranzubringen; etwas abseits davon, zu einer niedrigeren Stelle der Mauer, die noch nicht durch eine hölzerne Hurde über ihren Zinnen geschützt war, arbeitete sich eine Kompanie mit Sturmleitern durch den Dreck. Der Lärm war gewaltig und dröhnte in der überdachten Plattform des ehemaligen Belagerungsturms: Schreie, Pfiffe, das Rauschen, mit denen die Pfeilwellen herabfielen, das heisere Tröten von Hörnern und das Gebrüll der Sergeanten, die ihre Männer mit Flüchen vorwärtspeitschten.
Rogers’ jüngerer Bruder zitterte neben ihm vor Erregung; Rogers konnte es durch sein eigenes Kettenhemd und den gesteppten Haubert darunter spüren. Er wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, aber er wusste, dass Jung-Ramons ihn nur unwillig weggestoßen hätte. Der Junge war zehn Jahre alt und voller Schlachtenfieber; was es in Wahrheit bedeutete, wenn die durch den Schlamm taumelnden Gestalten dort unten plötzlich umfielen oder wenn einer der Verteidiger wie eine Holzpuppe von der Mauerkrone stürzte, ging völlig an ihm vorbei. Mit seinem knielangen Panzerhemd und dem unordentlich über den Kopf gezogenen Hersenier, dem rot-silbernen Waffenrock der Trencavels und dem extra für ihn gefertigten kleinen Schwert an der Hüfte war er eine Miniaturausgabe der Männer um sie herum, doch er sah nicht kriegerisch, sondern allenfalls pathetisch aus. Jung-Ramons hielt sich für den wahren Erben des Hauses Trencavel und betrachtete seinen älteren Bruder seit einiger Zeit wenn schon nicht als Hindernis, so doch als Lästigkeit. Durch Generationen hindurch hatte stets der erstgeborene Sohn eines Trencavel den Namen Ramons erhalten; und nur ein Ramons hatte den Familienzusatz führen dürfen. Vor Rogers hatte es einen Sohn gegeben, der Ramons geheißen hatte; er war gestorben, als Gräfin Sariz mit Jung-Ramons schwanger gewesen war, der ursprünglich hätte Guilhelm heißen sollen, nach Guilhelm de Soler, Graf Ramons’ früherem engsten Freund und Waffengefährten. So war es gekommen, dass der ältere Sohn den falschen Namen führte und der jüngere das Gefühl hatte, der eigentliche Nachfolger des Vaters zu sein. Graf Ramons hatte sich bislang nicht anmerken lassen, wen von seinen beiden Söhnen er bevorzugte.
Die Soldaten schafften es, die Ramme in Stellung zu bringen. Sie hatten eine Spur aus reglosen oder sich im Schlamm windenden Kameraden zurückgelassen, aber das Dach über der Ramme hatte den Rest geschützt. Die Verteidiger schossen nun Brandpfeile auf die Ramme herunter. Das nasse Moos auf den Schindeln ließ sie verlöschen. Weitere Soldaten arbeiteten sich heran. Es sah tollkühn aus, wie sie die Bedienungsmannschaft der Ramme verstärkten, doch Rogers ahnte, dass weniger Tapferkeit sie antrieb als vielmehr der Umstand, dass unter dem Dach der Ramme die einzige Deckung zu
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