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Die Pforten der Ewigkeit

Die Pforten der Ewigkeit

Titel: Die Pforten der Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Kruzifix. Die Löcher in der Maueröffnung, wo früher die Scharniere für die Torflügel gewesen sein mussten, klafften wie verzerrte Münder. Die Dunkelheit hinter der offenen Eingangstür war auf einmal noch viel dunkler, und als wäre er zuvor nicht da gewesen, nahm Elsbeth nun den Geruch von Moder, Feuchtigkeit und faulem Wasser wahr, der über dem Areal hing.
    Lass dich nicht vom ersten Eindruck gefangen nehmen! , dachte sie. Es ist in Wahrheit kein locus horroris ! Du bist nur enttäuscht nach den zwei Tagen Fußmarsch!
    Und außerdem wolltest du doch Hedwig an einen Ort bringen, an dem Bischof Heinrich sie vergessen würde , sagte eine andere Stimme in ihr. Perfekt gemacht. Dieser Platz hier wirkt, als hätte er sich sogar selbst vergessen.
    Dann wurde ihr bewusst, dass eine Gestalt genau zwischen ihrem kleinen Häuflein und der stummen Menschenmenge stand. Es war Hedwig. Erschrocken wollte sie sich in Bewegung setzen und sie zur Gruppe zurückbringen. Doch dann erkannte sie, dass die Blicke der Zuschauer alle an der zierlichen Person hingen: ein verrückter Trick von Sonnenstrahlen und Architektur ließ einen einzigen Keil aus Licht über den kleinen Platz fallen, und Hedwig stand genau darin. Ihre graue Wollkutte schimmerte wie Silber, die blasse Haut leuchtete. Ihre Augen waren geschlossen, und sie hatte ihr Gesicht der Sonne zugewandt wie eine Sonnenblume. Elsbeth ahnte, dass sie die Menschen überhaupt nicht wahrnahm, die sie anstarrten.
    »Ich habe die Worte des Herrn gehört«, sagte Hedwig träumerisch. Auf dem Platz war es so still, dass man selbst ein Flüstern gehört hätte. »Er sprach: Ich habe euch ein Buch geschrieben in goldener Schrift, und die Worte sollen ewig offenbar sein in meinem Reich. Seht, ich schenke euch Gold und Geschmeide im Überfluss, ich lasse Perlen auf den Äckern wachsen und Silber und Edelsteine auf dem Wasser. Ich habe die Schätze des Himmels für euch ausgebreitet auf den Fluren.«
    »Sie meint das Sonnenlicht, das sich in den Tautropfen spiegelt und auf der Wasseroberfläche«, murmelte Reinhild, wie immer die Pragmatikerin.
    Eine andere Schwester brummte: »Wann spricht sie nicht vom Licht?«
    Die Gesichter der Menschen blieben reglos. Nur ein kleiner Junge legte die Stirn in Falten, als bemühe er sich, das Rätsel zu lösen. Dann irrte sein Blick ab zu einer der Pfützen, die in den Furchen auf dem Platz standen. In der Pfütze glitzerte das Sonnenlicht. Über das Gesicht des Jungen huschte ein Lächeln, und er stieß einem Gleichaltrigen den Ellbogen in die Seite. Die Jungen begannen miteinander zu flüstern.
    »Der Herr hat zu mir gesprochen: Ihr haltet für wertvoll, was nur Plunder ist. Ihr lebt in den Schatten, doch ich habe euch das Höchste gegeben, das ich geschaffen habe: das Licht und die Liebe. Ihr wandelt in dunklen Gewölben, in denen ihr eure Schätze versteckt, tretet ein in die Finsternis und verstrickt euch in Lügen und umgebt euch mit toten Seelen, die über kalte Truhen wachen, vollgefüllt mit Angst. Denn der Herr sagt: Was verehrt ihr das Instrument des Schmerzes und nicht den Weg ins Licht der Gottheit?«
    Ein paar von den Zuhörern, die Halsketten mit hölzernen oder metallenen Kruzifixen trugen, griffen unwillkürlich danach und wechselten überraschte bis ratlose Blicke. Wenn Hedwig schon sonst nichts erreicht hatte, dann wenigstens, dass der merkwürdige Bann, den die Ankunft der Schwestern hervorgerufen hatte, gebrochen war.
    Und dass die ersten Worte, die sie von einer von uns gehört haben, reine Ketzerei waren , fügte Elsbeth in Gedanken hinzu. Sie trat zu Hedwig und nahm sie am Arm. Hedwig ließ sich widerstandslos wegführen, noch immer lächelnd. Sie blinzelte erst und öffnete die Augen, als Elsbeth sie in den Schatten der Mauer zog, und blickte sich mit vagem Bedauern in der Miene um, ohne etwas zu sehen.
    Reinhild machte eine stumme Kopfbewegung. Elsbeth drehte sich um. Die Zuhörer waren bereits dabei, sich zu zerstreuen. Die beiden Jungen hockten vor der Pfütze und rührten das Wasser darin auf, aber als die Sonne erneut von einer Wolke verdeckt wurde und die Pfütze sich wieder in das verwandelte, was sie war, nämlich eine Lache trüben Schmelzwassers in einer der Rinnen des schlammigen Platzes, verloren sie das Interesse.
    Dann war der Platz vor der Klostermauer leer bis auf die Schwestern, die sich beklommen anschauten – und einen dicklichen, unscheinbaren Mann mit zurückweichendem Haar, der sie anstarrte, als wären

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