Die Pforten der Ewigkeit
beschützte eine hohe hölzerne Palisade, in der sich wiederum ein Tor befand und sich zu einem Holzsteg öffnete, der über einen Fischteich führte. Der Holzsteg war eine wacklige Angelegenheit, die im Verteidigungsfall leicht abgerissen werden konnte; der Fischteich war künstlich aufgestaut und so lang wie die ganze Westseite der Stadt. Ein niedriger, kahler Hügel vielleicht tausend Schritte weiter in Richtung Westen, der sich unvermittelt aus dem Talboden erhob, trug die Ruine eines Galgens. Die nordwestliche Flanke fiel steil, fast senkrecht ab und war überwuchert von Buschwerk und verkrüppeltem Geäst. Der Steilhang wurde auf einem Viertel Höhe des Hügels abrupt abgefangen und ging in einen grasbewachsenen Buckel über, der beinahe wie ein Damm streng horizontal nach Norden verlief und sich dann allmählich nach unten senkte, bis er im Wald verschwand. Vögel kreisten über dem Steilhang und dem Buckel zu seinen Füßen – Greifvögel, aber auch zwei Kraniche, und als eine Dreierformation Enten plötzlich auftauchte und im Tiefflug über den Buckel schwirrte, ahnte Elsbeth, dass der Buckel tatsächlich ein Damm war, der einen kleinen See beinhaltete. Die Wasseroberfläche des Sees musste viele Dutzend Meter über dem Niveau der Stadt liegen. Elsbeth fragte sich müßig, wie eine solche Situation zustande kommen konnte, und fand keine Antwort darauf.
Nach Osten zu schien die Stadt unbefestigt, doch dann sah Elsbeth, dass die Wizinstener einen Kanal gegraben hatten, der von ihrer Stadt bis zu dem namenlosen Bach führte, welcher in die Swartza mündete. Der Kanal umfasste die Stadt ringsum als Burggraben und speiste den Fischteich; die Enten landeten auf seiner Oberfläche und zogen lange, dreieckige Furchen darüber. Halb verrottete Holzpfähle, die einmal oben zugespitzt gewesen sein mussten, reihten sich im Bett des Kanals nebeneinander und zeugten sowohl davon, dass die Wizinstener den Bau von Wehranlagen einmal eingesehen hatten, als auch davon, dass sie diese noch nie gebraucht hatten. Die Straße von Papinberc her führte an der Ostseite der Stadt vorbei und traf ein- oder zweihundert Schritt jenseits des südlichen Tors und der sich gleich daneben erhebenden Wassermühle mit der Straße zusammen, die in westlicher und später nordwestlicher Richtung nach Virteburh führen musste und in östlicher nach Nuorenberc.
Die Häuser standen dichtgedrängt wie bei jeder anderen Stadt. Das Ost-West-Gefälle ließ die Dachfirste im Osten höher aufragen als den Turm der einzigen Kirche, die im Westen beinahe direkt an der Holzpalisade stand. Über alles hinaus ragte im südlichen Drittel der Stadt ein weiterer Turm wie ein Bergfried, der wahrscheinlich einmal ein Torturm gewesen war, bis man die Stadt erweitert und das zweitürmige Tor neben der Mühle errichtet hatte. Bis auf das Tor im Süden, den ehemaligen Torturm und die Kirche schienen alle Wohngebäude im Stadtinneren aus Holz erbaut zu sein. Im Süden schließlich …
»… das muss das Kloster sein«, sagte Adelheid und beschattete die Augen mit der Hand. Sie atmete heftig, zum einen wegen der ungewohnten Anstrengung der langen Wanderung, zum anderen aus Erregung. »Unsere neue Heimat.« Wie die anderen jungen Schwestern war auch Adelheid davon begeistert gewesen, gleich nach der Ablegung der Profess in die Wildnis hinauszuziehen – besonders, wenn die Wildnis so augenscheinlich komfortabel innerhalb der Befestigung einer kleinen Stadt lag.
So weit man es sehen konnte, bestand das ehemalige Benediktinerkloster aus einem massiven Längsbau, an dessen einer Seite sich ein runder Turm mit einem hölzernen Dach erhob. Er stand inmitten eines weitläufigen Gartens, in dem die Äste und Zweige der Obstbäume ineinandergriffen. Etwas abseits, aber noch innerhalb des Klostergeländes, sank ein alter Wachturm in jahrelangem Verfall langsam in den Boden. Jedem musste klar sein, dass die Klosterbauten eigentlich die Reste einer alten Burg waren.
»Das sieht doch alles sehr gut aus«, sagte Elsbeth, obwohl sie eine ungute Vorahnung beschlich. Lag es daran, dass das Geäst des Obstgartens von Ferne eher ungepflegt und abweisend wirkte oder dass die langen grünschwarzen Schimmel- und Moosstreifen, die sich am Klosterbau herabzogen, eine Vernachlässigung zu bezeugen schienen, die weit über das hinausging, was von ein paar Mönchen in einer unbedeutenden Priorei zu erwarten war? Oder daran, dass dem Bau all das fehlte, was sie von Sankt Maria und
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