Die Pforten der Ewigkeit
die Gemeinschaft daher tatsächlich größer war, als wenn sie sich den Buckel krumm geschuftet hätte.
All das hatte Elsbeth berichten wollen, all das schoss ihr jetzt durch den Kopf, und stattdessen sagte sie nur: »Erzähl es mir.«
Lucardis sagte: »Kannst du dich noch erinnern, wie es in Colnaburg gewesen ist?«
Elsbeth nickte. Das Gefühl der Beklommenheit wurde stärker.
»Zu Frühlingsanfang kam eine Prozession nach Papinberc. Es war ein gutes Dutzend Männer mit weißen Tuniken und Mänteln, die Gesichter von Kapuzen verhüllt, rote Kreuze auf den Gewändern. Halb Papinberc lief auf dem Domplatz zusammen. Jeder hielt die Männer für Tempelritter. Sie marschierten in Zweierreihe in den Dom, brennende Fackeln in den Händen, obwohl es helllichter Tag war. Dort warfen sie sich zu Boden und beteten.«
»Wenn es keine Tempelritter waren, was …«
»Nach dem Gebet stellten sie sich auf dem Domplatz auf und begannen, bei ihrem Anführer zu beichten – öffentlich. Dann rissen sie sich die Gewänder von den Oberkörpern und warfen sich auf die Erde, und ihr Anführer schritt über sie hinweg und berührte sie mit einer Geißel, und da sahen wir alle erst, dass die Männer ebenfalls Geißeln bei sich trugen … und sie fingen an, sich selbst zu geißeln, bis ihr Blut in die Pfützen auf dem Domplatz rann.«
Die Tugend der Selbstgeißelung war Elsbeth nicht unbekannt. Bei den Nachfolgern des heiligen Dominikus war sie weit verbreitet; der Orden von Cîteaux lehnte sie jedoch in Befolgung der Benediktsregeln als unzulässige Form der Kontemplation ab. Und das war der Kern der Sache: Kontemplation. Die Geißelung diente der eigenen Erziehung, der Bekämpfung böser Lüste und der Erhebung des Menschen über seine eigenen Grenzen hinaus. Sie fand in der Zurückgezogenheit statt; man war allein mit sich und Gott. Zu hören, dass sie in der Öffentlichkeit vollzogen worden war, war unerhört, empörend, eine Geschmacklosigkeit.
Und machte ihr Angst.
Lucardis lächelte freudlos. »Danach standen sie auf und verkündeten, dass das Jüngste Gericht nahe sei, und lasen aus einem Pamphlet vor, das sie Himmelsbrief nannten und von dem sie behaupteten, ein Engel habe es verfasst zur Warnung der Menschheit. Gott sei zornig, und nur durch Selbstgeißelung könne der Mensch seine Seele retten, wenn die Welt untergeht. Kannst du dir vorstellen, welchen Eindruck es auf die Zuschauer macht, wenn eine Gruppe Fanatiker sich selbst bis aufs Blut martert, nur aus der Überzeugung heraus, dass das Ende der Welt gekommen ist?«
»Sie glauben es«, sagte Elsbeth. Sie schluckte. »Und sie denken daran, dass das Reich keinen Kaiser hat, der die Kräfte des Lichts in den Kampf führt, wenn die Scharen des Bösen aus der Hölle heraufsteigen, und dass alles verloren ist. Deshalb habe ich so viele Menschen in der Kirche gesehen.«
»Bischof Heinrich hat die Narren als Ketzer verurteilt und einsperren lassen. Aber das Unglück ist schon geschehen. Und es geschieht tagtäglich, nicht nur hier, sondern überall im Reich … in den Städten, in den Dörfern, hinter den Klostermauern und auf den Burgen der Herren. Der Kaiser ist tot, wer ihm gefolgt war, steht unter dem Kirchenbann, und der Papst ist durch seine Machtgier diskreditiert. Das Reich hat keine Führung. Was denken die einfachen Menschen? Es gibt keine Rettung! Und so teilt sich die Schafherde in zwei Teile: diejenigen, die trotz allem noch hoffen und in die Kirchen gehen und voller Panik um das Wunder beten, dass die Welt gerettet werden möge; und diejenigen, die aller Hoffnung auf das Himmelreich entsagt haben und nur noch danach trachten, sich zu bereichern in der Zeit, die ihnen bleibt.«
»Aber der König …«
»König Konrad hat seine Blicke auf sein Erbe in Süditalien gerichtet. Er lässt sogar zu, dass Wilhelm von Holland, sein Gegenkönig, wieder Anhänger in Deutschland gewinnt. Er mag sich von taktischen Erwägungen leiten lassen, aber für die Menschen sieht es so aus, als sei ihm das Reich egal. Du weißt ja, wie es ist: Wenn der Herr fehlt, werden die Hunde zu Wölfen.«
»Wie steht der Bischof zu all dem?«
»Ich kann es nicht nachvollziehen!«, brummte die Äbtissin. »Manchmal glaube ich, dass er eigentlich zu denen gehört, die hoffen, doch dann wiederum …«
»Ich habe gesehen, wie Torwachen eine jüdische Familie belästigt haben.«
»Falls du vorhattest, gegen diese Männer beim Bistum Beschwerde einzulegen: Vergiss es. Was König Louis in
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