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Die Pforten Des Hades

Die Pforten Des Hades

Titel: Die Pforten Des Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Saylor
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eine symbolische Fessel, sein Zeichen für einen Sklaven: zwei Sklaven.
    Ich wandte mich wieder an die Sibylle. »Die beiden vermißten Sklaven, Zeno und Alexandros - leben sie noch, oder sind sie tot? Wo kann ich sie finden?«
    Die Sibylle nickte in strenger Zustimmung. »Du fragst weise. Ich werde dir sagen, daß einer von ihnen versteckt ist und der andere offen zu sehen.«
    »Ach?«
    »Ich werde dir sagen, daß sie nach ihrer Flucht aus Baiae als erstes hierhergekommen sind.«
    »Hierher? Sie sind in deine Grotte gekommen?«
    »Sie sind gekommen, um den Rat der Sibylle einzuholen. Sie kamen als Unschuldige zu mir, nicht als Schuldige.«
    »Wo kann ich sie jetzt finden?«
    »Denjenigen, der sich versteckt hält, magst du im Laufe der Zeit selbst finden. Was den anderen angeht, der offen zu sehen ist, wirst du ihm auf dem Rückweg nach Baiae begegnen.«
    »Im Wald?«
    »Nicht im Wald.«
    »Wo dann?«
    »Es gibt einen Fels mit Blick über den Averner See...«
    »Olympias hat uns die Stelle gezeigt.«
    »Auf der linken Seite des Vorsprungs führt ein schmaler Pfad zum See hinunter. Bedecke Augen und Nase mit deinen Ärmeln und steige zum Eingang der Grotte hinab. Er wird dich dort erwarten.«
    »Was, der Schatten eines Toten auf der Flucht vor Tartarus?«
    »Du wirst ihn erkennen, wenn du ihn siehst. Er wird dich mit offenen Augen empfangen.«
    Zugegeben, es wäre ein schlaues Versteck gewesen, doch was für ein Mann konnte sein Lager direkt am Ufer des Averner Sees aufschlagen, inmitten von Schwefeldampf und den stinkenden Dämonen der Toten? Näher als bis zu dem Felsvorsprung hatte ich mich nicht an diesen Ort heranwagen wollen; der Gedanke an einen Abstieg bis direkt an sein Ufer ließ mich erschaudern. So wie Eco meinen Ärmel umklammerte, wußte ich, daß ihm die Idee genauso mißfiel wie mir.
    »Der Junge«, sagte die Sibylle knapp, »warum spricht er nicht für sich selbst?«
    »Er kann nicht sprechen.«
    »Du lügst!«
    »Nein, er kann nicht sprechen.«
    »Ist er stumm geboren worden?«
    »Nein. Als er sehr klein war, wurde er von einem Fieber befallen, demselben Fieber, das seinen Vater getötet hat; von jenem Tag an hat Eco nie wieder gesprochen. Das hat mir jedenfalls seine Mutter erzählt, bevor sie ihn verlassen hat.«
    »Wenn er es versuchen würde, könnte er jetzt sprechen.«
    Wie konnte sie so etwas sagen? Ich wollte etwas einwenden, doch sie unterbrach mich.
    »Laß es ihn versuchen. Sag deinen Namen, Junge!«
    Eco sah sie erst angsterfüllt, dann mit einem hoffnungsvollen Schimmern in den Augen an. Es war ein weiterer merkwürdiger Moment, an einem Tag voller Merkwürdigkeiten, und ich glaubte fest, daß das Unmögliche hier in der Sibyllinischen Grotte geschehen könnte. Eco muß es auch geglaubt haben. Er öffnete seinen Mund. Seine Kehle zitterte, und seine Backen spannten sich.
    »Sag deinen Namen!« verlangte die Sibylle.
    Eco strengte sich an. Sein Gesicht lief dunkel an. Seine Lippen zitterten.
    »Sag ihn!«
    Eco versuchte es. Doch der Laut, der aus seiner Kehle drang, war von keiner menschlichen Sprache. Es war ein ersticktes, verzerrtes Geräusch, häßlich und schrill. Aus Scham für ihn schloß ich die Augen, dann spürte ich ihn an meiner Brust, zitternd und weinend. Ich hielt ihn fest und fragte mich, warum die Sibylle einen derart grausamen Preis - die Erniedrigung eines unschuldigen Jungen - für so wenig verlangen sollte. Ich atmete tief ein und füllte meine Lungen mit dem Duft verfaulter Blumen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete meine Augen, entschlossen, sie zu tadeln, Gefäß des Gottes oder nicht, doch die Sibylle war nirgends zu sehen.
    DREIZEHN
    Wir verließen die Sibyllinische Grotte. Die Höhle mit den Echos und Stimmen kam mir jetzt nicht mehr ganz so geheimnisvoll vor - gewiß, eine merkwürdige Kammer, doch längst nicht mehr der ehrfurchtgebietende Ort, der sie beim Betreten gewesen war. Der Weg zurück zum Tempel war mühsam und steinig, doch wir mußten uns kaum auf allen vieren fortbewegen. Außerdem kam mir die Strecke längst nicht so weit vor wie auf dem Heimweg. Die ganze Welt schien aus einem seltsamen Traum erwacht. Selbst der launenhafte Nebel war verschwunden, und der Hügel erstrahlte in hellem Sonnenlicht.
    Das Feuer unter dem Rost war verloschen. Auf dem heißen Stein knackten und zischten noch gelegentlich die verkohlten Eingeweide und scheuchten jedesmal einen Schwärm Fliegen auf, der über ihnen kreiste. Der Anblick war unangenehm, doch

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