Die Philosophen der Rundwelt
Gleichgewichtsgefühl.
Denken Sie nun an ein Musikstück. Ist nicht die Konstruktion einer erweiterten Gegenwart genau die Übung, die Ihr Hirn mit einer Abfolge von Klängen ausführen »möchte«, aber ohne die Komplikationen der Bedeutung? Sobald Sie sich an den Stil einer bestimmten Art Musik gewöhnt haben, können Sie zuhören und ganze Themen, Melodien, Entwicklungen erfassen, obwohl Sie immer nur eine Note hören. Und der Instrumentalist, der das Geräusch macht, tut das Gleiche. Sein Gehirn hat Erwartungen, wie die Musik klingen sollte, und er erfüllt sie. In gewissem Maße.
Es scheint also, dass unser Sinn für Musik vielleicht mit einem Sinn für die erweiterte Gegenwart zusammenhängt. Einige mögliche wissenschaftliche Indizien für diese Annahme sind neulich von Isabelle Peretz gefunden worden. 1977 identifizierte sie einen Zustand namens »kongenitale Amusie«. Das ist keine Taubheit für Töne, sondern Taubheit für Melodien, und es sollten einige Einsichten möglich sein, wie normale Menschen Melodien erkennen, indem man betrachtet, wie eben das misslingt. Menschen mit diesem Zustand können keine Melodien erkennen, nicht einmal »Happy birthday to you«, und sie haben wenig oder gar kein Gefühl für den Unterschied zwischen Harmonie und Dissonanz. Mit ihrem Hörvermögen ist jedoch physisch alles in Ordnung, und als Kinder hat man ihnen durchaus Musik vorgespielt. Sie sind intelligent und haben keine geistigen Krankheiten durchgemacht. Was nicht zu funktionieren scheint, ist, dass sie in Sachen Musik kein Gefühl einer erweiterten Gegenwart besitzen. Sie können nicht rhythmisch mit den Füßen treten. Sie haben keine Ahnung, was Rhythmus ist. Ihr Sinn für Zeiteinteilung ist gestört. Ebenso, wohlgemerkt, ihr Sinn für Tonhöhe; sie können Töne im Abstand von zwei Halbtonschritten – zwei benachbarte weiße Tasten auf dem Klavier – nicht unterscheiden. Das Fehlen einer erweiterten Gegenwart ist also nicht das einzige Problem. Kongenitale Amusie ist selten und betrifft Männer und Frauen gleichermaßen. Wer darunter leidet, hat jedoch keine Schwierigkeiten mit Sprache, was darauf hinweist, dass die Musik-Bausätze des Gehirns, oder zumindest die von Amusie betroffenen, sich von den Sprachbausätzen unterscheiden.
Ein entsprechender interpretierender Schritt findet auch in den bildenden Künsten statt. Wenn Sie ein Gemälde betrachten – sagen wir, einen Turner –, ruft es verschiedene Emotionen in Ihnen hervor, vielleicht Nostalgie nach einem fast vergessenen Ferientag auf einer Farm. Das kann Ihnen einen kleinen Ausbruch von Endorphinen verschaffen, Chemikalien im Hirn, die ein Gefühl des Wohlbefindens erzeugen, aber vermutlich würden Sie dieselbe Wirkung von einem Foto oder sogar einer verbalen Schilderung oder einem Stück ländlicher Poesie erhalten. Das Gemälde von Turner leistet mehr, vielleicht, weil es sentimentaler sein kann, idealisierter als ein Foto, wie idyllisch es auch sein mag. Das Gemälde weckt Erinnerungen auf einer persönlicheren Ebene.
Wie ist es mit anderen Arten von Gemälden: den Papiertexturen, der verschmierten Holzkohle? Jack – als ein in Sachen Kunstverständnis Unbeleckter – ist in eine Kunstgalerie gegangen und hat den »Kontext«-Trick ausprobiert, der jedem Neuling immer empfohlen wird. Man soll vor dem Bild sitzen und es betrachten, sich irgendwie hineinversenken und fühlen, wie es sich zu seiner Umgebung verhält. Das Ergebnis war lehrreich. Wenn er seine Aufmerksamkeit einem kleinen Teil der Leinwand widmete, stellte er fest, dass er den Kontext, den sein Gehirn erfunden hatte, mit dem vom Künstler tatsächlich gelieferten in Beziehung setzen konnte. Die verschmierte Holzkohle eignete sich besonders gut dafür: Jeder Teil implizierte etwas vom Muster des Ganzen. Es gab jedoch von Teil zu Teil interessante Unterschiede, Variationen des Themas, wie in der Musik, die sich den Erwartungen des Gehirns überlagerten. Jacks Gehirn hatte seine Freude daran, das von ihm erfundene Bild mit dem immer wieder unterschiedlichen zu vergleichen, das zu konstruieren der Künstler sein Gehirn zwang.
Die Kunst reicht weit, weit zurück; je weiter wir zurückschauen, umso strittiger werden die Beweisstücke. Die »Dame à la capouche«, eine dreieinhalb Zentimeter große Frauenstatuette, fein aus Mammut-Elfenbein geschnitzt, ist 25 000 Jahre alt. Einige der elegantesten Höhlenzeichnungen mit einfachen, schwungvollen Linien, die Pferde, Bisons und dergleichen
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