Die Philosophen der Rundwelt
Zustand und findet unter Anwendung der Regeln heraus, wie er nach einem Zeitschritt in die Zukunft sein wird. Doch nun können wir diesen Zustand als den neuen »gegenwärtigen« betrachten und die Regel abermals anwenden, um festzustellen, wie sich das System zwei Schritte weit in die Zukunft verhalten wird. Nochmals wiederholt, und wir wissen, was nach drei Zeitschritten geschehen wird. Eine Milliarde Mal wiederholt, und die Zukunft steht für die nächste Milliarde Zeitschritte fest.
Dieses mathematische Phänomen führte den Mathematiker des 18. Jahrhunderts, Pierre Simon de Laplace, zu einem lebhaften Bild von einem »großen Intellekt«, der die gesamte Zukunft jedes einzelnen Teilchens im Universum vorhersagen konnte, wenn er erst einmal über die exakte Beschreibung all dieser Teilchen zu einem bestimmten Augenblick verfügte. Laplace wusste durchaus, dass eine derartige Berechnung viel zu schwierig war, um praktikabel zu sein, und ihm war auch bewusst, wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es ist, den Zustand jedes Teilchens im selben Augenblick zu beobachten. Trotz dieser Probleme trug sein Bild dazu bei, eine optimistische Haltung gegenüber der Vorhersagbarkeit des Universums zu schaffen. Oder, genauer gesagt, hinreichend kleiner Teile davon. Und etliche Jahrhunderte hindurch unternahm die Wissenschaft große Anstrengungen, um solche Vorhersagen in den Bereich des Machbaren zu rücken. Heute können wir die Bewegung des Sonnensystems auf Jahrmilliarden hinaus vorhersagen, und wir können sogar (halbwegs genau) das Wetter ganze drei Tage im Voraus vorhersagen, was erstaunlich ist. Wirklich. Wetter ist viel schlechter vorherzusagen als das Sonnensystem.
Laplaces hypothetischer Intellekt ist in Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis als Deep Thought parodiert worden, der Supercomputer, der fünf Millionen Jahre brauchte, um die Antwort auf die große Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest zu berechnen. Die Antwort, auf die er kam, lautete 42. Deep Thought kommt ziemlich nahe an »großer Intellekt«, wenngleich der Name von dem Pornofilm »Deep Throat« herstammt, dessen Titel der Tarnname für die geheime Quelle im Watergate-Skandal war, bei dem sich Richard Nixons Präsidentschaft selbst zerstörte (wie schnell die Leute vergessen …).
Ein Grund, warum sich Adams über den Traum von Laplace lustig machen konnte, ist, dass es – wie wir seit etwa vierzig Jahren wissen – mehr als nur einen großen Intellekt braucht, um die Zukunft des Universums oder auch nur eines kleinen Teils davon vorherzusagen. Es braucht dazu absolut exakte Anfangsdaten, auf unendlich viele Dezimalstellen genau. Kein noch so kleiner Fehler ist zu dulden. Keiner. Es bringt nichts, es auch nur zu versuchen. Dank dem als »Chaos« bekannten Phänomen kann sich selbst der kleinste Irrtum beim Ermitteln des Ausgangszustandes exponenziell ausweiten, sodass die vorhergesagte Zukunft rasch krass ungenau wird. In der Praxis übersteigt es jedoch das Vermögen der Wissenschaft von heute, etwas genauer als auf ein Billionstel, zwölf Stellen, zu messen. Obwohl wir also tatsächlich die Bewegung des Sonnensystems auf Jahrmilliarden hinaus vorhersagen können, können wir es nicht korrekt tun. In Wahrheit haben wir kaum eine Vorstellung, wo sich in hundert Millionen Jahren der Pluto befinden wird.
Zehn Millionen andererseits sind ein Klacks.
Das Chaos ist nur einer der praktischen Gründe, warum es generell unmöglich ist, die Zukunft vorherzusagen (und zwar richtig). Hier wollen wir einen davon ziemlich verschiedenen Grund untersuchen: Komplexität. Das Chaos beeinflusst die Methode der Vorhersage, die Komplexität aber wirkt sich auf die Regeln aus. Chaos tritt auf, weil es in der Praxis nicht möglich ist, exakt zu bestimmen, welchen Zustand ein System hat. In einem komplexen System kann es unmöglich sein, auch nur annähernd zu sagen, über welches Spektrum von möglichen Zuständen das System verfügt. Chaos wirft Sand ins Getriebe der Maschinerie wissenschaftlicher Vorhersage, doch Komplexität macht aus dieser Maschinerie einen kleinen Würfel von verbogenem Schrott.
Die Beschränkungen des Laplace’schen Weltbildes haben wir schon im Zusammenhang mit Kauffmans Theorie der autonomen Agenzien erörtert, die in den Raum der angrenzenden Möglichkeiten expandieren. Nun werden wir genauer betrachten, wie solche Expansionen stattfinden. Wir werden sehen, dass das Laplace’sche Bild noch eine Rolle zu
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