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Die Philosophen der Rundwelt

Die Philosophen der Rundwelt

Titel: Die Philosophen der Rundwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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wahrscheinlich, dass das Kind noch nicht gut genug koordiniert ist, um seine Rassel in Reichweite zu behalten: Wir denken »Verlorenes Eigentum«. Dann sehen wir, wie Mutti dem Kind die Rassel zurückgibt und mit einem Lächeln belohnt wird, und wir denken: »Nein, es ist raffinierter: Da bringt ein Baby seiner Mutter bei, Dinge heranzuschaffen, ganz so, wie wir Erwachsenen es Hunden beibringen.« Jetzt denken wir: »Fundsachen.« Das Babylächeln ist selbst Teil eines komplexen, reziproken Systems von Belohnungen, das die Evolution vor langer Zeit eingerichtet hat. Wir sehen, wie Babys das Lächeln Erwachsener »nachahmen« – doch nein, es kann keine Nachahmung sein, denn auch blinde Babys lächeln. Die Nachahmung wäre sowieso ungeheuer schwierig: Von einem Eindruck irgendwo auf der Netzhaut muss das unentwickelte Gehirn ein Gesicht mit einem Lächeln »aussortieren«, dann mit seinen eigenen Muskeln trainieren, um diese Wirkung zu erzeugen, und all das ohne Spiegel. Nein, es ist ein vorgeformter Reflex. Babys reagieren reflektorisch auf Sprechen in zärtlichem Tonfall und auf die vorgeformte Erkennung eines Lächelns; eine nach oben gebogene Linie auf einem Stück Papier bewirkt dasselbe. Das »Lächeln«-Symbol belohnt den Erwachsenen, der sich dann heftig bemüht, dafür zu sorgen, dass das Baby weiterlächelt. Die komplexen Wechselwirkungen setzen sich fort und verändern beide Seiten immer stärker.
    Leichter können sie in ungewöhnlichen Situationen analysiert werden, etwa bei sehenden Kindern mit Eltern, die Zeichensprache verwenden, die vielleicht taub oder stumm sind, gelegentlich aber auch im Zuge eines psychologischen Experiments. Zum Beispiel untersuchte 2001 eine Gruppe kanadischer Forscher unter der Leitung von Laura Ann Pettito drei Kinder im Alter von ungefähr sechs Monaten, die alle perfekt hörten, aber taube Eltern hatten. Die Eltern »redeten« zu den Babys in Zeichensprache, und die Babys begannen ihrerseits in Zeichensprache zu »lallen« – das heißt, zufällige Handbewegungen zu machen. Die Eltern benutzten eine ungewöhnliche und sehr rhythmische Form der Zeichensprache, ganz unähnlich dem, was sie gegenüber Erwachsenen gebrauchten. Ebenso sprechen Erwachsene mit Babys in einem rhythmischen Singsang, und im Alter zwischen etwa sechs Monaten und einem Jahr nimmt das Lallen der Babys die spezifischen Spracheigenschaften der Eltern an. Die Babys stellen ihre Sinnesorgane um und stimmen sie ab, in diesem Fall die Ohrschnecke, um die Sprache möglichst gut zu hören.
    Manche Wissenschaftler glauben, das Lallen sei nur ein zufälliges Öffnen und Schließen des Mundes, doch andere sind überzeugt, dass es ein wesentliches Stadium beim Erlernen der Sprache ist. Die Verwendung spezieller Rhythmen durch die Eltern und das spontane »Lallen« mit Handbewegungen, wenn die Eltern taub sind, deutet darauf hin, dass die zweite Theorie der Wahrheit näher kommt. Petitto vermutet, der Gebrauch von Rhythmus sei ein uralter Evolutionstrick, der die natürliche Sensitivität des kleinen Kindes nutzt.
    Wenn das Kind größer wird, geschieht es, dass seine komplexe Wechselwirkung mit den Menschen in seiner Umgebung völlig unerwartete Ergebnisse zeitigt – was wir »emergentes« Verhalten nennen, will sagen, es ist nicht offen im Verhalten der Komponenten vorhanden. Wenn zwei oder mehr Systeme derart wechselwirken, nennen wir den Prozess eine Komplizität . Die Wechselwirkung eines Schauspielers mit einem Publikum kann eine völlig neue und unerwartete Beziehung herstellen. Die evolutionäre Wechselwirkung von Blut saugenden Insekten mit Wirbeltieren hat Protozoen den Weg geebnet, die als Blutparasiten Krankheiten wie Malaria und die Schlafkrankheit hervorrufen. Das System Fahrer-und-Wagen verhält sich anders als beide einzeln (und Fahrer-und-Wagen-und-Alkohol sind noch weniger berechenbar). In ähnlicher Weise ist die menschliche Entwicklung eine fortschreitende Wechselwirkung zwischen der Intelligenz des Kindes und der Extelligenz der Kultur: eine Komplizität. Diese Komplizität schreitet vom einfachen Erlernen des Wortschatzes zur Syntax kleiner Sätze und zur Semantik fort, mit der die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes und die Erwartungen der Eltern erfüllt werden. Der Beginn des Geschichtenerzählens wird dann zu einer frühen Tür zu Welten, von denen unsere Verwandten, die Schimpansen, nichts wissen.
    Die Geschichten, auf die alle menschlichen Kulturen zurückgreifen, um die Erwartungen

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