Die Philosophin
er ab.
Warum schrieb er ihr dann?
Diderot wusste, es war absurd, was er tat. Doch er konntenicht anders. Sie hatte ihm seine ersten Briefe ungeöffnet zurückgesandt. Er hatte die Geste verstanden und ihr keine weiteren Briefe mehr geschickt. Dennoch hörte er nicht auf, ihr zu schreiben; es war die einzige Möglichkeit, ihr nahe zu sein, sie zu spüren, nachdem sie aus seinem Leben verschwunden war, fast ohne jede Spur – die einzige Möglichkeit, um sich zu vergewissern, dass es sie überhaupt gab. Manchmal fragte er sich, ob sie wirklich existierte oder nur in seiner Fantasie.
Sagt Ihnen nicht Ihr Herz, dass ich hier bin? Ich spüre nur eins: dass ich unfähig bin, von hier wegzugehen. Die Hoffnung, Sie einen Augenblick zu sehen, hält mich zurück, und so plaudere ich mit Ihnen weiter und weiß nicht, ob das Buchstaben sind, die ich da mache. Überall dort, wo nichts steht, lesen Sie, dass ich Sie liebe …
Unter dem Tisch bewegte sich etwas. Diderot legte die Feder beiseite und schaute nach. Zwei braune Kinderaugen blickten ihm entgegen.
»Angélique! Was machst du denn da?«
Seine Tochter strahlte über ihr ganzes vierjähriges Gesicht.
»Ich hab mich bei dir versteckt.«
»Na, dann komm mal her auf meinen Schoß!«
»Nein«, sagte sie und schüttelte ihre braunen Locken. »Das geht nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich mein Buch fertig schreiben muss.«
Sie machte ein ganz ernstes Gesicht. Erst jetzt sah Diderot, dass sie einen Bogen Papier und eine Feder in ihren kleinen Händen hielt.
»Aber einen Kuss kannst du mir vorher noch geben, oder?«
»Nur, wenn du mir versprichst, dass ich ein Brüderchen zum Spielen bekomme.«
Ihr Wunsch versetzte ihm einen Stich. Sophie hatte ihm in zwei Zeilen mitgeteilt, dass sie einen Sohn von ihm bekommen habe, dass er Dorval heiße und mit ihr am Hof lebe. Nur diese zwei Zeilen – mehr nicht.
Angélique zwickte ihn in die Wade.
»Versprichst du mir das?«, wiederholte sie.
»So was kann man nicht versprechen, mein Engelchen.«
»Dann bekommst du auch keinen Kuss!«
Sie blickte ihn an, die kleine Stirn in ärgerliche Falten gekräuselt, und als sie sah, dass er keine weiteren Anstalten machte, sich um sie zu bemühen, krabbelte sie zurück unter den Tisch. Diderot seufzte. Ob sie Dorval jemals kennen lernen würde? Er versuchte sich vorzustellen, wie Angélique und sein Sohn sich eines Tages vielleicht einmal begegneten … Wo würde es sein? Unter welchen Umständen? Eine Idee kam ihm in den Sinn: War das womöglich eine Geschichte? Oder ein Theaterstück?
»Na, dann sieh mal zu, dass du mit deinem Buch fertig wirst!«, sagte er, während er seinen Einfall auf einem Blatt Papier notierte. Dann griff er nach einem der Pappkartons, um endlich mit der Arbeit anzufangen. Im selben Moment klopfte es an der Tür.
»Herein!«
Jaucourt stand auf der Schwelle, den Dreispitz in der Hand. Er war so außer Atem, dass er kein Wort herausbrachte, während er vor Aufregung mit den Armen ruderte.
»Was gibt’s?«
»Haben Sie schon gehört?«, stieß er endlich mit überschnappender Stimme hervor. »Jemand hat den König umgebracht!«
»Waaas?«, rief Diderot und sprang von seinem Stuhl auf.
»Ich komme gerade aus dem ›Procope‹. Ein Gast dort hat esmit eigenen Augen gesehen. Ein Attentat. Man hat Ludwig ermordet.«
Sie blickten einander an, überwältigt und stumm.
Obwohl er unschuldig war, verspürte Diderot plötzlich Angst.
4
Drei Tage später erschien Antoine Sartine, inzwischen wohlbestallter Untersuchungskommissar, der ein ganzes Heer von Inspektoren und Sergeanten befehligte, bei Pater Radominsky zum Rapport.
»Wie konnte das passieren?«
»Es geschah Punkt Viertel vor sechs am Nachmittag. Der König kam von einem Besuch bei Madame zurück. Der Täter hat sich mit einem Messer auf ihn gestürzt, als Seine Majestät gerade die Kutsche bestieg, um das Fest der Heiligen Drei Könige im Trianon zu feiern.«
»Im Lustschloss seiner Mätresse?«, fragte Radominsky angewidert.
»Sehr wohl. Der Mann hatte unter dem Kirchengewölbe gelauert und sich dann unbemerkt unter die Leibgarde Seiner Majestät gemischt. Die Klinge des Messers war etwa vier Daumen lang und drang seitlich zwischen der vierten und fünften Rippe in den Leib. Der Hieb wurde von unten nach oben ausgeführt. Zunächst glaubte der König, ein Faustschlag habe ihn getroffen. Erst als das Blut austrat, wurde er gewahr, dass man ihn verletzt hatte. Seine Majestät wurde sogleich
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