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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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zur Ader gelassen, exakt um Viertel nach sechs.«
    Während Sartine in seinem Bericht fortfuhr, versuchte Radominsky, sich die Folgen der Katastrophe auszumalen. War der Anschlag ein Zeichen des Himmels? Ein Aufruf, endlich mit aller Konsequenz gegen die Aufrührer und Frevler im Land einzuschreiten? Ach, wenn dem nur so wäre! Das Attentat auf Ludwig war vielmehr dazu angetan, nicht nur Frankreich in eine tiefe Krise zu stürzen, sondern drohte vor allem den Schutzschild der wahren Monarchie im Land zu treffen, den einzigen Hüter des Gottesgnadentums königlicher Macht – den Orden der Gesellschaft Jesu.
    Radominskys Befürchtung war mehr als begründet. In Frankreich, das durch den Waffengang mit England und Preußen ohnehin schon bis ins Mark geschwächt war, war ein Glaubenskrieg entflammt, wie man ihn seit der Vertreibung der Hugenotten nicht mehr erlebt hatte. Schuld daran waren die verfluchten Jansenisten. Statt auf die Stimme Roms hörten sie allein auf das Krähen des gallischen Hahns und erklärten die Ansprüche der Krone gegenüber der Kirche für unantastbar – eine Frechheit angesichts des Papstes, der mit seiner Bulle
Unigenitus
den Jansenismus als Irrlehre gebrandmarkt hatte. Doch war diese Frechheit ein Wunder, wenn sich das Parlament, die oberste Gerichtsbarkeit im Land, auf die Seite der Rebellion stellte? Obwohl der Erzbischof von Paris befohlen hatte, dass keinem Jünger des Jansenius die Sterbesakramente gespendet werden durften, ohne dass er zuvor der Irrlehre abgeschworen hatte, befahl das Parlament den Priestern in den Pfarreien,
allen
Sterbenden katholischen Glaubens gleich welcher Couleur die Sakramente zu spenden, andernfalls werde ein Haftbefehl gegen sie ergehen. Ja, das Parlament hatte sogar die Stirn, Papst Benedikt XIV., Gottes Stellvertreter auf Erden, selbst zu verdammen, weil Rom demKönig im Konflikt mit seinen Widersachern den Beistand der Kirche versichert hatte, als Ludwig zur Finanzierung des Krieges zwei Sous Abgabe auf jede Livre des Zehnten erhob.
    Und jetzt, inmitten all dieser Wirren, das Attentat! Das Blut Seiner Majestät war noch nicht getrocknet, da hallte das Land von den aberwitzigsten Gerüchten über den Täter und seine möglichen Hintermänner wider. Man vermutete Verschwörungen im In- und Ausland, keine Partei traute der anderen über den Weg; das Parlament verdächtigte den Hof, der Hof das Volk, das Volk die feindlichen Kriegsparteien – selbst einen geheimen Auftrag des russischen Zaren schloss man nicht aus. Das übelste, gemeinste, widerwärtigste Gerücht aber streuten die Jansenisten. Überall, sowohl in der Stadt als auch in Versailles, machte es bereits die Runde: Hinter dem Anschlag auf König Ludwig, vom Volk »der Vielgeliebte« genannt, verberge sich in Wahrheit ein Komplott der Jesuiten … Welch schamlose Infamie! Kein Atheist hätte eine heimtückischere Idee ausbrüten können – allein der Verdacht bedrohte die Existenz des Ordens. Als Vorwand für die himmelschreiende Unterstellung verwiesen die Jansenisten auf die alte Lehre der Gesellschaft Jesu, wonach die Ermordung eines Tyrannen vor Gott gerechtfertigt sei. Radominsky stöhnte. Wenn der Täter wenigstens sein Ziel erreicht hätte! Die Gerüchte vom Tod des Königs, die einen Tag lang in Paris kursierten, hatten sich als falsch erwiesen. Trotz des Blutes, das sich aus der Wunde ergossen hatte, war bei dem Anschlag keine lebenswichtige Ader verletzt worden – zwei dicke Röcke und der Pelz, mit denen der König bekleidet war, hatten die Wucht des Stoßes abgefangen. Doch ob Ludwig nun tot oder nur verletzt war – die Verleumder verstiegen sich zu der Behauptung, dass er seines Lebens nicht mehr sicher sei, solange es noch einenJesuiten in Versailles gebe, weil die Gesellschaft Jesu alles daran setze, den frömmelnden Dauphin, Lieblingssohn der Königin, auf dem Thron zu installieren, um so die Herrschaft der Kirche über die Krone abzusichern. Kein Zweifel, die Jansenisten wollten sich nicht länger mit ihrer Vorherrschaft im Parlament begnügen, sondern die Katastrophe nutzen, um auch in Versailles die Macht an sich zu reißen.
    Nein, Radominsky machte sich keine Illusionen. Das Attentat konnte bedeuten, dass die Gesellschaft Jesu im Königreich Frankreich für immer verboten wurde. Es sei denn, man fand unwiderlegbare Beweise, dass die Gefährdung des Staates von ganz anderer Seite ausging.
    »Der Mann«, berichtete Sartine, »war mit einer Weste aus grünlichem Samt und einer

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