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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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dagegen erhielt nichts dergleichen, nicht ein einziges Billett. Die Pompadour blieb in ihren Gemächern ohne jede Nachricht, und als wäre das nicht Demütigung genug, drangen von draußen, wo sich unter ihren Fenstern das Volk zusammengerottet hatte, wütende Schreie und Drohungen zu ihr herauf. Es war allgemeine Ansicht, dass sie die Schuld an dem ganzen Unglück trug. Angeblich war es der Wunsch des Königs, dass sie Versailles für immer verließ.
    Die Favoritin weinte, fiel in Ohnmacht, begann von neuem zu weinen und fiel wieder in Ohnmacht. Zu zittrig, um ein Glas zu halten, lag sie auf ihrer Ottomane und schlürfte aus einem silbernen Becher Orangenblütenwasser, das Sophie ihr behutsam einflößte. In ihrer Empörung und ihrem Schmerz dachte die Pompadour ernsthaft daran, die Koffer zu packen, doch wann immer sie zwischendurch für einige Stunden bei Kräften war, beriet sie sich mit den wenigen Freunden, die ihr bei Hofe geblieben waren, allen voran mit ihrem langjährigen Vertrauten Bernis, einem Freigeist und Kardinal, welcher innerhalb des Klerus der jansenistischen Partei zuzuzählenwar. Er tröstete und beruhigte sie, indem er ihr versicherte, dass ein weniger wehleidiger Mann als der König in derselben Verfassung durchaus imstande wäre, am Abend zum Ball zu gehen.
    »Seien Sie gewiss, Madame«, fügte er hinzu, »sobald der Todeswahn von ihm ablässt, wird Seine Majestät wieder des Teufels sein.«
    Sophie nutzte die wenige Zeit, in der ihre Herrin sie nicht brauchte, vor allem dazu, sich um ihren Sohn zu kümmern. Obwohl erst fünf Jahre alt, fand Dorval sich in dem riesigen Labyrinth von Versailles bereits besser zurecht als sie selbst. Ganz allein lief er vom Salon der Diana zum Salon des Überflusses, vom Salon des Merkur zum Salon der Venus und von dort zum Ochsenauge, wo ihn ein riesiger Schweizer, der jede Störung vom König fernhielt, am Kragen packte und zu seiner Mutter zurückschickte. Dorval war der Schrecken der Lakaien und Tafeloffiziere, deren Kratzfüße er auf die drolligste Art nachzuahmen verstand. All die Größe und Pracht, die Sophie immer noch als fremd und überwältigend empfand, erschien ihm, der nie die Armut und das Elend in den Gassen von Paris gesehen hatte, die feuchten Behausungen, die stinkenden Kloaken und dreckigen Tabakschenken, so selbstverständlich, als könnte die Welt gar nicht anders sein. Die Zimmerfluchten und Säle imponierten ihm ebenso wenig wie die Gemälde, die Statuen und Antiquitäten. Er bewunderte weder die vielen goldverzierten Spiegel noch die kostbaren Baldachine oder die endlose Zahl der Gänge, die an der Tafel serviert wurden, ja nicht einmal die wappengeschmückten Staatskarossen, die an ihm vorüberfuhren, wenn er draußen in den Gärten spielte. Allein der Hauptmann der Schweizergarde, ein kleines, bleichgesichtiges Männlein mit spindeldürrenBeinen, dem seine Soldaten, lauter sechs Fuß lange, schnauzbärtige, mit Hellebarden bewaffnete Kerle, trotz ihrer körperlichen Überlegenheit aufs leiseste Wort hin gehorchten, flößte ihm Achtung ein.
    Von morgens bis abends war Dorval im Schloss und im Park unterwegs. Noch größer als seine Respektlosigkeit war sein Wissensdurst. Alles, was er sah, was er roch, was er berührte, erregte seine Neugier. Die Köche in den Küchen mussten ihm erklären, wie sie die Speisen zubereiteten, die Stellmacher in den Remisen, wie sie die Wagenräder auf die Achsen der Kutschen montierten, die Schmiede in den Ställen, wie sie die Hufe der Pferde beschlugen. Die Märchen Perraults, aus denen Sophie ihm am Abend vorlas, waren ihm längst nicht mehr genug, auch nicht die Fabeln La Fontaines. Vor allem aber wollte er sich nicht damit begnügen, seiner Mutter nur zuzuhören, vielmehr wollte er selber in den Büchern lesen. Er war der festen Überzeugung, dass sich hinter den gedruckten Buchstaben und Wörtern viel aufregendere Dinge verbargen, als Sophie ihm beim Vorlesen verriet.
    Sie hatte sich darum entschlossen, ihm das Lesen beizubringen – so wie ihre Mutter es vor vielen Jahren ihr beigebracht hatte. Als Lehrbuch benutzte sie dabei ein mehrbändiges Werk, das noch mehr Antworten enthielt, als selbst Dorval an Fragen stellen konnte. Ein Artikel hatte es ihm besonders angetan.
    »Die Indianer, die dieses Getränk seit Urzeiten kannten, bereiteten es auf sehr einfache Weise zu. Sie rösteten ihre Kakaobohnen in irdenen Gefäßen und zermahlten sie, nachdem sie sie geschält hatten, zwischen zwei Steinen,

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