Die Philosophin
roten Plüschhose bekleidet. Man fand die Waffe in seiner Tasche, ein aufklappbares Messer mit zwei Klingen, die eine ganz gewöhnlich und ziemlich scharf, die andere wie ein Federmesser. In der Hand trug er ein Gebetbuch. Er erklärte, es von einem Mönch geschenkt bekommen zu haben.«
»Um Gottes willen!«, flüsterte Radominsky entsetzt.
»Außerdem fand man in seinen Taschen eine beträchtliche Summe Geld, siebenunddreißig Louisdor, dazu einige Silbermünzen.«
»Die Äußerlichkeiten interessieren mich nicht«, unterbrach ihn Radominsky, ungeduldig mit den Fingern trommelnd.
»Das steht schon alles in der Zeitung. Ich muss in das Innere der Tat vordringen. Was ist der Attentäter für ein Mensch? Was wissen Sie über ihn? Woher kommt er? Was sind seine Motive?«
»Der Mann heißt Damiens«, erwiderte Sartine, »ein ehemaliger Lakai.«
»Wer sind seine Komplizen?«
»Er behauptet, keine zu haben. Sogar unter der Folter blieb er dabei. Man hat mit glühenden Zangen versucht, die Namen aus ihm herauszubrennen, doch vergeblich.«
»Im
Mercure
wird behauptet, er sei schwachsinnig. Teilen Sie diese Meinung?«
Sartine schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich habe ihn mehrmals allein verhört, unter vier Augen. Zwar redet er manchmal ziemlich wirr, stammelt unzusammenhängendes Zeug, man müsse den König
treffen,
den König
rühren
und derlei mehr. Dann aber spricht er plötzlich auffallend klar, in ganzen, vollständigen Sätzen, geradezu druckreif.«
»Druckreif? Ein ungebildeter Lakai?«
»Verzeihen Sie, wenn ich widerspreche, aber ich halte diesen Mann keineswegs für ungebildet. Ich habe eher den Eindruck, er hat zu
viel
Bildung genossen, mehr jedenfalls, als ihm gut tut. Seine Art zu reden erinnert mich an manche Betschwestern – ich weiß nicht, ob der Vergleich sich schickt, aber …«
Sartine zögerte und blickte Radominsky fragend an. Der bedeutete ihm mit einer Geste fortzufahren.
»Wie soll ich sagen? Wenn er die fraglichen Sätze sagt, und er sagt sie immer wieder, hört es sich an, wie wenn eine alte Betschwester das Vaterunser herunterrasselt. Jedes Wort reiht sich ans andere, ganz wie es sein muss, doch kommt alles ohne Sinn und Verstand über seine Lippen. Als hätte er einen Text auswendig gelernt, den er nicht wirklich versteht.«
»Was für Sätze sind das?«
»Einen Moment bitte, ich habe mir ein paar aufgeschrieben.« Sartine zückte sein Notizbuch und schlug es auf. »Zum Beispielden hier, den sagt er immer wieder: ›Die Macht, die durch Gewalt erlangt wird, ist Usurpation und dauert nur so lange, wie die Stärke des Gebietenden die der Gehorchenden übertrifft.‹«
Radominsky umklammerte die Lehnen seines Stuhls, um nicht aufzuspringen. Diesen Satz kannte er! Er hörte förmlich die Stimme des Mannes, von dem die Worte stammten, sah sein Gesicht, seine Augen, seinen Mund – so klar und deutlich, als säße er hier vor ihm im Raum.
»Und Fragen stellt er«, fuhr Sartine fort, »immer wieder dieselben. ›Gibt es denn keine ungerechte Macht? Gibt es nicht Autoritäten, die keineswegs von Gott stammen, sondern gegen seine Gebote und seinen Willen geschaffen werden? Haben die Usurpatoren etwa Gott für sich?‹« Der Kommissar schloss sein Notizbuch und schaute Radominsky an. »Ich glaube, ich weiß, woher diese Sätze stammen.«
»Ich auch«, sagte Radominsky und erhob sich von seinem Stuhl. »Durchsuchen Sie die Wohnung dieses Mannes, auf der Stelle! Beschlagnahmen Sie alle Bücher und Broschüren, die Sie bei ihm finden. Kehren Sie das Unterste zuoberst! Ich brauche jedes verdammte gedruckte Wort, das der Kerl besitzt!«
5
Dunkle Wolken hingen über Versailles, und in dem herrlichsten Schloss Europas, das sonst vierundzwanzig Stunden am Tag von Lärm, Musik und Lachen erfüllt war, um die Nebelder Langeweile zu vertreiben, wagten sich die Höflinge und Lakaien nur noch auf Zehenspitzen zu bewegen.
Der normale Gang der Dinge war aufgehoben. Obwohl dem König nur die Haut geritzt worden war, wähnte Ludwig sich dem Tod nahe. Der pferdegesichtige Dauphin Louis-Stanislas, den Staatsgeschäften eigentlich fremd, musste die Sitzungen des Kronrats leiten, statt mit seiner Mutter die Messe zu besuchen, während der Herrscher sich mit seinem Beichtvater Desmarets einschloss und sich mehrmals täglich die Sterbesakramente spenden ließ. Zwischen Absolution und Letzter Ölung schickte er reumütige Briefe an seine Gemahlin Maria Leszczynska. Seine Mätresse
Weitere Kostenlose Bücher