Die Philosophin
Rousseau war wie von Sinnen; wen immer er zu fassen bekam, ob Diderot selbst oder Grimm oder Baron d’Holbach, der gelegentlich zu Besuch kam – jeden überzog er mit seinen Tiraden und Wahnvorstellungen, um ihm die Verwerflichkeit und Lasterhaftigkeit eines irregeleiteten Lebens vorzuhalten. Er pries die Natur als einzig möglichen Ort menschlicher Glückseligkeit und verdammte die Gesellschaft, von der alles Übel ausgehe, prangerte die Verderbnis der Sitten an, die Intrigen und Verstellungen, die wie böses Unkraut in den Städten wucherten, um die ursprünglichen und aufrichtigen Beziehungen der Menschen untereinander zu korrumpieren. Jeden, der sich dem Leben in der Natur verweigerte,betrachtete Rousseau als seinen Feind. Wer seiner Lehre nicht folgte, war ein Verräter und trachtete danach, sein unschuldiges Glück zu zerstören. Sogar die Tatsache, dass Voltaire sich in Genf niedergelassen hatte, fasste er als persönlichen Angriff auf: Damit habe man ihn für immer seiner Heimat beraubt. Einzig seiner rasenden Verliebtheit in Madame d’Houdetot, eine Verwandte der Gastgeberin mit unglaublich hässlichem Gesicht, doch eutergroßem Busen, an dem sich das Genie des Dichters entzündet hatte, verdankte Diderot die wenigen Augenblicke, in denen er Muße fand, sein Herz in einem Brief an Sophie auszuschütten. Auch wenn er die Briefe nie abschickte, waren sie die einzige Möglichkeit, das Tollhaus rings um ihn her zu vergessen.
Er hatte sich gerade hingesetzt, um ein paar Zeilen zu schreiben, als ein Diener ihm eine Depesche brachte.
»Aus Paris?«
Diderot runzelte die Stirn. Die Handschrift war die seines Verlegers. Ungeduldig öffnete er das Kuvert. Das Schreiben enthielt nur wenige Zeilen, doch sie genügten, um ihn aufs Äußerste zu alarmieren:
Das Parlament hat den Verkauf der Enzyklopädie verboten und einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Kommen Sie schnell! Kommen Sie gleich! Lassen Sie alles liegen und stehen!
Mit der nächsten Postkutsche machte Diderot sich auf den Weg. Bereits in aller Herrgottsfrühe kam er am nächsten Morgen in Paris an. Noch bevor er seine Wohnung aufsuchte, um die Kleider zu wechseln, war er in der Rue de la Harpe.
Im Verlagshaus war die Krisenstimmung mit Händen zu greifen. Wenn er sonst die Druckerei im Erdgeschoss betrat, lüfteten die Gesellen den Hut. Heute starrten sie ihn nur mit schiefem Grinsen an, und kaum hatte er ihnen den Rückenzugewandt, um die Treppe hinaufzusteigen, hörte er, wie sie über ihn zu tuscheln anfingen.
Le Bréton, der zusammen mit d’Alembert im Redaktionsbüro bereits auf ihn wartete, empfing ihn mit einem Buch in der Hand. Wie ein Fanal prangte der Titel auf dem Einband:
Über den Geist.
»Haben Sie diesen Mist hier verzapft?«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Es geht das Gerücht«, erklärte d’Alembert, »dass sich hinter Helvétius niemand anders verbirgt als Sie.«
»Wer behauptet das?«
»Die Jesuiten. Im
Journal de Trévoux.«
»Sagen Sie die Wahrheit!«, brüllte Le Bréton. »Und wehe, es ist so, wie die Übelkrähen behaupten! Ich schlage Sie tot!«
Diderot fühlte sich plötzlich wie vor einem Tribunal.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe mich ein paar Mal mit Helvétius unterhalten, vielleicht habe ich ihm auch das eine oder andere Manuskript zu lesen gegeben – ich kann mich nicht an jede Begegnung erinnern, Herrgott noch mal! Was soll das überhaupt werden?«
»Was das werden soll?«, schnaubte Le Bréton. »Das kann ich Ihnen sagen, Diderot: ein Strick, ein wunderhübscher Strick. Passend für Ihren und meinen Hals.« Er fasste sich an die Gurgel, als würde er bereits den Hanf spüren. »Wenn der König sich dem Votum des Parlaments anschließt, sind wir erledigt.«
»Wir hätten ins Ausland gehen sollen«, flüsterte d’Alembert, bleich wie die Wand. »Voltaire hat es immer gesagt …« Noch während er sprach, ging die Tür auf, und herein kam Jaucourt.
»Rousseau hat die Seiten gewechselt!«, rief er. »Er fällt öffentlich über uns her.«
»Was brabbeln Sie da?«, fragte Le Bréton. »Was interessiert uns jetzt Rousseau?«
»Er hat eine Replik auf den Artikel ›Genf‹ geschrieben!« Jaucourt zog ein Heft aus der Tasche und reichte es d’Alembert.
»Da! Lesen Sie selbst!«
Bevor d’Alembert reagierte, riss Diderot ihm das Heft aus der Hand.
»Welcher Sodomit hat Sie nur angestiftet, die Genfer zu verleumden?«, zischte Le Bréton in d’Alemberts Richtung, der den Artikel über
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