Die Philosophin
Enzyklopädie war in den Händen ihrer Leser.
Während die Philosophen in den Kaffeehäusern und Dachstuben von Paris Diderot als Retter des Wörterbuchs feierten, wurde Sophie, die von Le Bréton je ein Exemplar der vollständigen Textbände erhalten hatte, von Zweifeln geplagt. »Gedruckt in Neuchâtel«, las sie, als sie einen Band aufschlug, »in der Werkstatt von Samuel Fauche & Compagnie.« Mit Hilfe dieses Buches sollten die Menschen lernen, ihr Leben auf Erden so einzurichten, dass sie sich selbst das höchste Gut bescheren konnten: Glück. Was war davon übrig geblieben?
Über ihre Zweifel tröstete sie nur der Anblick Dorvals hinweg, der sich mit der Begeisterung seiner dreizehn Jahre in das Lebenswerk seines Vaters vertiefte. Er konnte ja nicht ahnen, dass die Texte, die er da las, so verfälscht waren wie die Angabe des Verlagsorts und Buchdruckers – nur ein ferner Widerhall der Botschaften, die Diderot und seine Mitstreiter ursprünglich verfasst hatten.
»Ist mein Vater jetzt berühmt?«, fragte Dorval.
Sophie wollte gerade antworten, als ein Postbote am offenen Fenster ihres Hauses erschien und ihr einen Brief in die Küche reichte. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick.
Madame
,
nach allem, was zwischen Ihnen und mir in der Vergangenheit vorgefallen ist, wage ich kaum, Ihnen zu schreiben. Da ich aber weiß, wie sehr Ihnen das Schicksal der Enzyklopädie am Herzen liegt, sehe ich mich heute trotz allem gezwungen, mein Schweigen zu brechen
.
Etwas Unvorstellbares ist passiert: Le Bréton sitzt in der Bastille; er wurde verhaftet, als er persönlich zwanzig Partien der neuen Textbände an Subskribenten in Versailles auslieferte, gleichsam vor den Augen des Königs. Damit nicht genug, geht das Gerücht, Diderot habe ihn angezeigt – der Herausgeber seinen Verleger! Fast möchte man meinen, er wolle sein eigenes Werk zerstören
.
Was hat ihn nur zu solchem Wahnsinn getrieben?
Mit dem Ausdruck immerwährender Verbundenheit bin ich
Ihr Chrétien de Malesherbes
Sophie biss sich auf die Lippen. Sie wusste die Antwort auf Malesherbes’ Frage – und dieses Wissen brachte sie fast um den Verstand.
20
Es hieß, Paris sei das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Männer und die Hölle der Pferde. Letzteres konnte Sartine nur bestätigen, so sehr rüttelte und holperte die Kutsche auf ihrem Weg von seinem neuen, herrschaftlichen Haus am Montparnasse zur Jesuitenkirche Saint-Paul-Saint-Louis. Pater Radominsky hatte ihn zu sich gerufen, um ihm eine wichtige Mitteilung zu machen, und Sartine fühlte sich diesem Mann zu sehr verpflichtet, als dass er ihm ein Gespräch verweigert hätte, obwohl er über beide Ohren mit Arbeit eingedeckt war.
Jedes Mal, wenn er mit seiner Kutsche diesen Teil der Stadt passierte, fragte sich Sartine, wann der Magistrat endlich den Gefahren, die unter den Straßen und Plätzen lauerten, die nötige Aufmerksamkeit widmen würde. Ursache der zahllosen Schlaglöcher und Bodenunebenheiten war die planlose Ausbeutung der Steinbrüche im Pariser Untergrund, die jahrhundertelang ohne die geringsten Sicherheitsvorkehrungen betrieben worden war. Die Höhlungen hatten inzwischen ein Furcht erregendes Ausmaß angenommen, und wenn man bedachte, worauf das Fundament ganzer Quartiere beruhte, musste einem Angst und Bange werden. Sartine hatte mit eigenen Augen den aufgegebenen Steinbruch gesehen, der unter dem Keller des astronomischen Observatoriums lag. Halb durchgebrochene Decken, Absenkungen voller Risse und Löcher, Einbrüche so groß wie Krater, Pfeiler, die unter dem Gewicht, das auf ihnen lastete, einzustürzen drohten, doppelstöckige Steinbrüche, deren Säulen sich nur zum Schein gegenseitig stützten. Und die Pariser aßen und tranken,arbeiteten und schliefen in den Gebäuden, die auf dieser brüchigen Kruste ruhten, ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in der sie fortwährend schwebten.
Sartine blickte auf seine goldene Repetieruhr. Weshalb wollte Radominsky ihn sprechen? Sah der Pater vielleicht eine Möglichkeit, die Streitigkeiten zwischen den Enzyklopädisten für die Sache der Kirche und des Staates zu nützen? Sartine wusste, dass die Gerüchte über Diderot und seinen Verleger blanker Unsinn waren. Diderot hatte niemanden verraten – Le Bréton war bei seiner dreisten Aktion aufgeflogen, weil die Polizei ihre Pflicht getan und die Augen offen gehalten hatte. Sartine beschäftigte ein ganz anderes Rätsel: Warum hatte
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