Die Philosophin
Diderot sich nicht gegen seinen Verleger zur Wehr gesetzt und die Verstümmelung der Enzyklopädie ohne lauten Protest hingenommen? Diderot hatte sich sogar für Le Bréton eingesetzt und dazu beigetragen, dass der Verleger inzwischen wieder auf freiem Fuß war. Warum zum Teufel hatte er das getan? Konnte es sein, dass er die volle Wahrheit wusste? Ein Setzer aus der Druckerei, der Sartine schon seit Jahren mit Informationen aus der Rue de la Harpe versorgte, hatte ihm von der Manipulation der Enzyklopädie berichtet – und davon, wie sie zustande gekommen war. Doch dieses Wissen, so beschloss der Polizeipräfekt, wollte er vorerst für sich behalten. Das ging nur Diderot und ihn etwas an.
Die Glocken von Saint-Paul-Saint-Louis riefen gerade zur Abendmesse, als seine Kutsche die Jesuitenkirche erreichte.
»Gab es keine Möglichkeit, die Freilassung von Le Bréton zu verhindern?«, fragte Radominsky, nachdem sie einander in der Bibliothek begrüßt hatten.
Sartine schüttelte den Kopf. »Mir waren die Hände gebunden, der Kanzler hat mir entsprechende Weisung gegeben. Offenbar ist man aufseiten der Regierung der ganzen Affäre überdrüssig. Monsieur de Maupéou äußerte sich zumindest in diesem Sinn.«
»Das ist die Dankbarkeit der Menschen … Die Textbände sind also an die Subskribenten ausgeliefert?«
»Leider,
mon père,
und zwar vollständig. Wenn Sie die Zahlen wünschen, ich habe eine Übersicht aufstellen lassen.« Sartine zückte sein Notizbuch. »Dreihundertsechsundfünfzig Exemplare in Bordeaux, vierhunderteinundfünfzig in Toulouse, zweihundertachtzehn in Rennes …«
»Genug!«, unterbrach ihn der Jesuit. »Es schmerzt mich zu sehr, das zu hören.«
»Immerhin haben wir erreicht, dass die Artikel von den schlimmsten Irrlehren bereinigt wurden. Ich habe die Texte überprüft, im Vergleich zu den ersten Bänden sind sie geradezu harmlos zu nennen.«
»Ich habe sie gleichfalls studiert.« Radominsky verzog angewidert das Gesicht. »›Ach, dass du kalt oder warm wärest‹, spricht der Herr. ›Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.‹«
»Wie bitte?«, fragte Sartine irritiert.
»Wenn ich einen Feind habe, will ich stolz auf ihn sein. Die Artikel der letzten zehn Bände wirken im Vergleich zu den früheren, als habe ein Eunuch Diderot die Feder geführt. Es heißt«, wechselte der Pater dann das Thema, »Le Bréton habe ein Vermögen gemacht?«
»In der Tat, von drei Millionen Livres ist die Rede. Von dem Geld hat er das Haus gekauft, das Monsieur de Jaucourt in der Rue de Mâcon bewohnte – sein letztes. Der Chevalier hat sichfür die Enzyklopädie vollkommen ruiniert. Le Bréton wird das Haus wohl in Bälde mit seiner Familie beziehen.« Radominsky nickte. »Sagen Sie mir, Monsieur de Sartine, und ich bitte Sie um eine ehrliche Antwort: Welche Seite hat den Sieg davongetragen? Das Wort Gottes oder die menschliche Anmaßung? Oder«, fügte er voller Bitterkeit hinzu, »hat am Ende nur der Mammon triumphiert, wie der Teufel uns im Gaukelspiel der irdischen Wirklichkeit glauben machen will? Das wäre kaum zu ertragen.«
Sartine zögerte. »Ich weiß es so wenig wie Sie,
mon père«,
sagte er schließlich. »Aber wenn ich meinen persönlichen Empfindungen Ausdruck verleihen darf, Ihre Frage befremdet mich. Sie klingt – wie soll ich sagen? – beinahe wie ein Abschied.«
»Was für ein sicheres Gespür Sie doch haben«, sagte Radominsky mit wehmütigem Lächeln. »Ja, ich habe mein Amt als Beichtvater der Königin niedergelegt. Der Widerstand am Hof gegen meine Person war zu groß, nachdem der König die Gesellschaft Jesu nun auch offiziell aufgelöst hat. Ich werde mich der Anordnung meines Generaloberen fügen, mir nichts aneignen und nichts verbergen, was dem Haus gehört, um mich in vieler Geduld als Diener Gottes zu erweisen.«
Sartine atmete einmal tief durch. Das also war die Mitteilung, wegen der Radominsky ihn zu sich gebeten hatte. »Wollen Sie den Kampf wirklich aufgeben?«, fragte er dann. »Ich verstehe, dass die gegenwärtige Situation Sie zutiefst verletzt und schmerzt – niemand hat sich um die Erhaltung des Königreichs größere Verdienste erworben als Sie. Aber es gibt ermutigende Anzeichen, dass der Wind sich dreht. Fast alle Bischöfe des Landes setzen sich für Ihren Orden ein, undPapst Klemens hat die Gesellschaft Jesu mit einer Bulle ausdrücklich in ihren Rechten bestätigt.«
»Und das Parlament hat die Bulle umgehend für Paris und
Weitere Kostenlose Bücher