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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ganz Frankreich verboten. Nein, Monsieur de Sartine, ich bin schon zu lange auf Erden, um noch an Wunder zu glauben. Man hat mich vor die Wahl gestellt: Entweder ich leiste einen vollständigen Unterwerfungseid, oder aber ich verliere mein Amt.« Radominsky hob die Arme. »Ich habe getan, was ich konnte, sogar dem Gründer meines Ordens habe ich abgeschworen, um den Kampf nicht aufzugeben, doch nun ist es genug. Gottes Wille geschehe! Ich bin müde, ein alter Mann, meine Kräfte reichen nur noch für das Gebet.«
    Ein junger Abbé kam herein, um die Kerzen in der Bibliothek anzuzünden. Durch die offene Tür strömte ein süßlicher Geruch aus der angrenzenden Sakristei in den Raum. Stammte er von einem aufgebahrten Leichnam, oder war es der Weihrauch für das Messopfer, das gerade in der Kirche gefeiert wurde? Sartine blickte Radominsky an, der reglos an seinem Schreibtisch saß, die Ellbogen auf die Lehnen seines Stuhles gestützt, die Fingerspitzen vor dem Gesicht mit den scharfen Zügen gegeneinander gestellt. Zwanzig Jahre lang hatte er diesen Mann bewundert und zugleich gefürchtet. Es war, als würde er seinen Vater verlieren.
    »Wohin werden Sie gehen, Hochwürden? Nach Rom?«
    Radominsky schüttelte den Kopf. »Ich möchte noch einmal die Schwarze Madonna in meiner Heimat sehen. Ein Kloster unweit von Krakau wird mich aufnehmen. Dort kann ich in der Gemeinschaft meiner Glaubensbrüder warten, bis Gott mich in seiner Güte von dieser Welt zu sich ruft. – Und Sie, Monsieur? Was sind Ihre Pläne?«
    Sartine antwortete nicht sogleich. Eine Aufgabe gab es noch,die er zu erfüllen hatte. Sollte er dem Pater die Wahrheit über seine Absichten verraten? Nein, er war jetzt sein eigener Herr – niemand stand mehr über ihm, dem er Rechenschaft schuldete.
    »Ich gebe den Kampf nicht auf«, sagte er darum nur. »Ich werde weiter versuchen, meinem König und meiner Kirche zu dienen, sofern ich es mit meinen bescheidenen Kräften vermag.«

21
     
    Eine Nacht wüster Ausschweifungen lag hinter Diderot, von Wein und Tabak und Liebe. Er hatte keine Stunde geschlafen, als er am Morgen den Pont Neuf überquerte und in die Sonne blinzelte, die so blendend hell vom Himmel schien, als wolle sie ihm das Augenlicht nehmen. Der neue Generalleutnant der Pariser Polizei und Chef der Zensurbehörde von Frankreich, Antoine de Sartine, hatte ihn für elf Uhr zu einer Unterredung einbestellt, und ihm blieb nun nichts anderes übrig, als in seinen verschwitzten und stinkenden Kleidern der Vorladung Folge zu leisten.
    Diderot war so benommen, dass er die Schreie der Straßenhändler wie scharfe Stiche empfand, die ihm in die Ohren fuhren. Das Hämmern der Kesselflicker klang in seinem Schädel wider, als würden darin die Glocken von Notre-Dame läuten, die Feilen der Grobschmiede schabten und raspelten an seinem Gehirn, und die vorbeirollenden Kutschen weckten in ihm den Wunsch, man möge das Straßenpflasterpolstern, um das unerträglich laute Rasseln der eisenbeschlagenen Räder zu dämpfen. Er war bei den Huren im Palais Royal gewesen, die dort nach Anbruch der Dunkelheit wie Katzen durch die Arkadengalerie streunten. Die ganze Nacht hatte er in ihrer Gesellschaft verbracht – sie waren die einzigen Wesen, die sich immer nur als das gaben, was sie in Wirklichkeit waren, und mochten sie mit sämtlichen Lastern behaftet sein, die ein Mensch haben konnte, so war ihnen doch das schäbigste aller Laster fremd: die Heuchelei.
    Der Magen knurrte Diderot vor Hunger so laut, dass er bei einer Speisenhökerei am Ende der Brücke stehen blieb. Seit Wochen schon wurde er von einem Heißhunger geplagt, der schlimmer war als der seiner Frau, wenn sie schwanger war. An keiner Bude konnte er vorübergehen, ohne etwas zu essen. Begierig und gleichzeitig angewidert ließ er den Blick über die Auslagen schweifen. Hier endete, worauf die Küchenjungen in den großen Herrenhäusern spuckten und was die Lakaien verschmähten. Auf angeschlagenen Tellern schimmelten Speisereste in der Sonne, die ein Bischof oder Gerichtspräsident vielleicht schon halb im Mund gehabt hatte, bevor er es sich anders überlegte: angeknabberte Hühnerkeulen, vertrocknete Bratenstücke, verdorbener Fisch. Obwohl es ihm Brechreiz verursachte, kaufte Diderot von dem widerlichen Zeug eine Portion zu drei Sous, die der Höker eilfertig von den Tellern zusammenkratzte. Sein Hunger war stärker als sein Ekel, er fühlte nur noch Hunger, war nur noch Hunger, und mit bloßen Fingern

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