Die Philosophin
Ihres Verlegers Le Bréton eingesetzt?«, fragte der Polizeipräfekt. »Sind das tatsächlich die Gründe?«
Diderot hatte plötzlich einen ekelhaften Geschmack im Mund, und er wusste nicht, ob er von den Essensresten herrührte, die er zu sich genommen hatte und die ihm immer wieder aufstießen, oder von seinen eigenen Worten, die ihm ebenso faul und verdorben schienen wie die genossenen Speisen, weil er sie nur noch mechanisch wiederkäute, ohne an sie zu glauben.
»Haben Sie mich herzitiert, um mich das zu fragen?«, erwiderte er unsicher.
»Nun, ich hätte durchaus Verständnis gehabt, wenn Sie Ihren Verleger im Stich gelassen hätten. Ja, ich hätte es sogar begreiflich gefunden, hätten Sie ihn selber der Polizei angezeigt. Es heißt, Le Bréton habe Sie auf ziemlich üble Weise hinters Licht geführt.«
»Weil er Ihren Zensoren die Arbeit abgenommen hat?« Diderotverschränkte die Arme vor der Brust. »Tut mir Leid, Euer Ehren, aber da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Philosoph, kein Denunziant. Außerdem habe ich in meiner Jugend gelernt, dass man ein Unternehmen, das man einmal begonnen hat, auch zu Ende führt.«
»Tatsächlich«, sagte Sartine voller Staunen. »Sie haben nicht die geringste Ahnung.«
»Ahnung?«, fragte Diderot irritiert. »Wovon?«
»Von der Wahrheit«, erwiderte der Polizeipräfekt, und ein feines Lächeln spielte um seine Züge. »Von der Wahrheit, die Sie sich angeblich an Ihre Fahne geheftet haben. Doch sind Sie auch imstande, die Wahrheit zu ertragen, wenn sie Ihr eigenes Werk betrifft?«
Sartines Miene wurde noch eine Spur verbindlicher, und Diderot begriff mit einem Schlag, dass nun der Augenblick der Abrechnung gekommen war. Auf einmal war ihm seine Jacke zu eng, und die rauen Wollstrümpfe kratzten ihn an den Waden, dass er es kaum ertragen konnte. Erst jetzt merkte er, dass die Kleider ihm in nassem Schweiß am Leibe klebten.
»Wenn Sie ein Freund der Wahrheit sind, Monsieur Diderot«, sagte Sartine, »möchten Sie dann nicht wissen, wer die Enzyklopädie tatsächlich auf dem Gewissen hat?«
22
Raketen jagten heulend in den nächtlichen Himmel hinauf, wo sie unter den Aaahs und Ooohs des versammelten Volks in prasselnd bunten Feuergarben zerbarsten. Es war die Johannisnacht,die Nacht der Sommersonnenwende, und auf der Place de Grève, wo einmal in der Woche der Markt und einmal im Monat die Hinrichtung der vom Parlament zum Tode Verurteilten stattfand, wurde wie jedes Jahr am vierundzwanzigsten Juni das Feuerwerk der Stadt Paris abgebrannt, um den Beginn der neuen Jahreszeit zu feiern.
Das Knattern der Knallfrösche war bis in die Rue Taranne zu hören, und der Widerschein der funkelnden Feuergarben leuchtete durch die Fensterscheiben und erhellte die Mansarde, während Diderot die Pappkartons mit all seinen Notizen und Exzerpten, angefangenen und vollendeten Manuskripten, aus denen sich zwei Jahrzehnte lang die Enzyklopädie gespeist hatte, für immer beiseite räumte. Er wollte nichts mehr um sich haben, was ihn an dieses Unternehmen erinnerte.
Er stand vor den Trümmern seines Lebens: Das Sturmgeschütz der Vernunft, die Armada der Philosophie, die Kriegsmaschine der Aufklärung – sein Lebenswerk war ein Torso. Er hatte seine Träume geopfert für die Wahrheit, in der Hoffnung, einst der Lukrez, der Plinius der neuen Zeit zu werden. Dutzende von ungeschriebenen Dramen und Romanen und Pamphleten hatten nie das Licht der Welt erblicken dürfen, weil er seine ganze Kraft in den Dienst dieses einen großen Werkes gestellt hatte. Er hatte sich berufen gefühlt, die Seelen der Menschen anzurühren, doch hatte er auf diese Berufung verzichtet, auf seine herrlichsten Ideen wie auch auf seinen persönlichen Ehrgeiz, um durch ein einziges Buch, das alle Kenntnisse der Menschheit in sich versammelte, die Welt zu verändern – das hatte er am Grab seines Vaters geschworen. Sein Ziel war es gewesen, die Wegkarte zum Paradies auf Erden aufzuzeichnen. Was war davon übrig geblieben?Während er dafür gekämpft hatte, den Aberglauben aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben, war er selbst hinters Licht geführt, sein Werk ruiniert, die Wahrheit verstümmelt, das Wissen der Welt kastriert worden. Von der Hand einer Frau, die er mehr geliebt hatte als je einen anderen Menschen zuvor und danach …
Draußen krachte es wie von einem Donnerschlag, dann durchzuckte ein Blitz die Nacht. Auf dem Tisch lag ein Brief, den Diderot an Sophie geschrieben hatte, noch in dem
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