Die Philosophin
Glauben, Le Bréton sei der Urheber des Verrats:
Ist das nicht eine Geschichte zum Tollwerden? Vier Jahre hindurch hat er sich in seiner Infamie gefallen. Er stand des Nachts auf, Feuer an seinen Buchladen zu legen, und das schien ihm ergötzlich. Er schleicht mit seiner dicken und schwerfälligen Figur um mich herum; er setzt sich, steht auf, setzt sich wieder, will sprechen, schweigt. Ach, was gäbe ich darum, wenn die Schlächterei unseres Werkes nicht geschehen wäre …
Diderot nahm den Bogen und zerknüllte ihn in der Hand. Er hatte den Brief geschrieben, ohne ihn abzuschicken, wie so viele andere Briefe auch, nur um Sophie in Gedanken nahe zu sein. Doch was war die Wirklichkeit? Er hatte sein Herz eben jenem Menschen ausgeschüttet, der sein ganzes Unglück auf dem Gewissen hatte. Le Bréton war nur ihr Komplize gewesen, ein kleiner, mieser Geschäftemacher, der ihn betrogen hatte, um seinen Gewinn zu sichern – eine verkrachte Existenz. Aber Sophie? Die Enttäuschung, die sie ihm zugefügt hatte, war bodenlos, schlimmer als jede Verzweiflung. Sie hatte ihn bis ins Grab verwundet, ihm für immer das Leben genommen. Denn ihr Verrat hatte ihn ineine Leere gestoßen, aus der es kein Entkommen gab: die Leere seiner Seele.
Warum? Wozu?
Plötzlich überfiel ihn wieder ein Heißhunger, als hätte er seit Tagen kein Stück Brot gesehen. Sollte er zur Place de Grève gehen? Dort fand jetzt die Volksspeisung statt, zu der die Stadtschöffen alljährlich in der Johannisnacht luden. Bei der Vorstellung lief ihm das Wasser im Mund zusammen: Gerüste, von denen man geräucherte Zungen, Schlackwürste und Brötchen auf die Menge hinabwarf, während aus offenen Röhren weißer und roter Wein sich ergoss, den die Menschen mit Henkelkrügen und Eimern auffingen.
Diderot trat ans Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit, die ab und zu ein Feuerwerksblitz erhellte. Wenn er sich beeilte, würde er es noch rechtzeitig bis zur Seine-Insel schaffen. Doch war das wirklich sein Wunsch? Das Gelage an der Place de Grève war in Wahrheit ein ganz und gar widerliches Spektakel, mit dem der Magistrat in einer Nacht das Volk für alles Unrecht zu entschädigen trachtete, das er ihm im Laufe des Jahres zufügte. Auf demselben Pflaster, auf dem man Robert Damiens wie ein Vieh geschlachtet hatte, war in dieser Nacht das Bildnis des Monarchen in aller Pracht zu sehen. Niedrigkeit und Elend waren die Tischgenossen bei diesem schaurigen Bankett. Die Brötchen und Würste wurden in den Händen der schamlosen Verteiler zu Schleudersteinen, vor denen jeder floh, dem sein Leben lieb war, und wer sich nach dem sprudelnden Wein drängte, musste fürchten, zu Boden geworfen und mit Füßen getreten zu werden, während zerlumpte Musikanten, umgeben von stinkenden Pechpfannen, mit hartem Bogen ihre Geigen aufjaulen ließen. Und dieKanaille hüpfte und schrie und heulte und stampfte dazu und war so glücklich wie im Paradies.
Hatte er dafür ein Leben lang gearbeitet? Welche kühnen Träume hatten ihn einmal beseelt, und was für ein erbärmliches Ende hatten sie genommen …
Eine neuerliche Feuergarbe, größer als jede andere zuvor, zerplatzte mit lautem Geprassel am Himmel. Für eine Sekunde schien Paris der Dunkelheit entrissen, gaben die Gassen, die Straßen, die Plätze im Schein der künstlichen Blitze ihr Geheimnis preis. Diderot nickte. Ja, so war das Leben, genau so wie diese Nacht: ein unendliches Meer der Finsternis, nur hin und wieder erleuchtet von den Zuckungen eines irrenden Lichts.
War ein solches Leben zu ertragen? Während er die Antwort suchte, kam ihm eine merkwürdige Idee in den Sinn, eine kleine, versponnene Idee, die vielleicht einen Roman abgeben konnte: die Geschichte eines Mannes, der seine eigene Freiheit leugnete und sich auf die Vorstellung versteifte, dass all sein Tun in einer himmlischen Schicksalsrolle vorgegeben sei. Weil er nur mit solchem Fatalismus sein Leben ertragen konnte – sein Leben und seine Freiheit.
Diderot ging gerade an den Schreibtisch, um den Einfall zu notieren, da klopfte es an der Tür.
23
In der Tür stand Malesherbes.
»Darf ich eintreten?«
»Wenn Sie die Unordnung entschuldigen, bitte sehr. Ich räume gerade auf. Was führt Sie zu mir?«
Der ehemalige Direktor der königlichen Hofbibliothek und oberste Zensor schloss die Tür hinter sich und wartete, dass Diderot ihm einen Platz anbot. Als das nicht geschah, sagte er: »Madame Sophie steht im Begriff, Paris zu
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