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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Zeit.
    »Machst du bitte das Fenster zu?«
    Wie immer, wenn sie allein waren, schien Sartine sich plötzlich unbehaglich zu fühlen. Während er mit ihr sprach, wich er ihrem Blick aus, griff nach seiner Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag, faltete sie umständlich auseinander und begann zu lesen. Als wollte er sich vor ihr verstecken.
    »Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte sie und schloss das Fenster.
    »Ja, gerne.«
    Er schaute einmal kurz über den Rand der Zeitung, so freundlich und gleichzeitig schuldbewusst, dass es ihr einen Stich versetzte. Während er wieder hinter seinem Journal verschwand, stellte sie den Wasserkessel auf den Herd und gab einen Löffel von dem Tee in die Kanne, den der Wirt des »Procope« ihr als Teil des Lohns mit nach Hause gab.
    Was war das nur für ein Mann, den sie geheiratet hatte? Sophie hatte keinen Grund zum Klagen. Sartine war ein fürsorgender Gatte; zu Beginn jeder Woche gab er ihr Haushaltsgeld, er machte ihr sogar hin und wieder kleine Geschenke – ein paar Bonbons, ein Haarband oder eine bunte Schleife –, und in zwei Jahren Ehe hatte er nie die Hand gegen sie erhoben. Und doch fiel es Sophie mit jedem Tag schwerer, ihre Zuneigung zu bewahren. Sie war jetzt zwanzig Jahre alt – genau das richtige Alter, um Kinder zu gebären. Doch nichts geschah. Ihre Kolleginnen im »Procope« verspotteten sie schon, weil sie nicht schwanger wurde. Aber wie sollte sie auch? In all den Monaten hatte Sartine sie nicht ein Mal berührt, obwohl sie ihm längst zu verstehen gegeben hatte, dass sie bereit war,die Dinge mit ihm zu tun, die Eheleute für gewöhnlich miteinander taten. Doch sie war immer noch Jungfrau, wie die heilige Maria.
    Wollte er sein Leben lang das Versprechen halten, das er ihr bei der Heirat gegeben hatte?
    Manchmal las er des Abends in einem Buch, das er in einer Schublade vor ihr verschloss, bevor er sich zu ihr legte. Dann küsste und streichelte er sie und nahm ihre Hand. So lagen sie da, ohne sich zu rühren, ihre Hand in seiner Hand, während er stumm in die Dunkelheit starrte, nur hin und wieder leise seufzend, und wenn sie ihn zärtlich drängte, ihm mit kleinen Gesten und Liebkosungen anzudeuten versuchte, wonach sie selbst sich sehnte, begann er von seiner Zeit als junger Unterleutnant zu sprechen, als er noch mit der Verfolgung der Unzucht beauftragt gewesen war, von den schrecklichen Dingen, die er bei den Dirnen und ihren Freiern gesehen hatte. Als wollte er sie damit von ihrer Sehnsucht kurieren wie mit einer bitteren Medizin.
    »Hier, bitte, dein Tee.«
    »Danke, das ist sehr lieb von dir.« Er legte die Zeitung beiseite und berührte mit seiner Hand ihren nackten Arm.
    Sophie spürte ein heftiges Kribbeln auf ihrer Haut. Wenn er sie doch nur einmal richtig berühren würde! Wie sehr hoffte sie, dass seine Hand sich bewegte, jeder Fleck, jede Pore ihrer Haut verzehrte sich danach, schrie, winselte, flehte, dass er ihren Arm streichelte, ihre Schulter, ihren Hals, ihren Nacken, ihre Brüste. Dieses Sehnen in ihrem Leib, das sich in warmen Wellen von ihrem Schoß ausbreitete, war kaum noch zu ertragen.
    »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich sehr glücklich bin, dich zur Frau zu haben?«
    Sartine zog seine Hand zurück. Die Berührung hatte keine Sekunde gedauert.
    »Ja.« Sie nickte. »Und ich freue mich auch darüber.«
    Wie oft hatte er ihr das schon gesagt, fast jeden Tag, seit sie verheiratet waren. Aber wie viel lieber wäre es ihr gewesen, er würde es sie spüren lassen! Wenn er sie einfach nehmen und küssen, sie an sich drücken und pressen würde, bis sie keine Luft mehr bekam! Stattdessen hob er wieder seine Zeitung vors Gesicht. Die Stille im Raum legte sich um ihren Hals wie eine riesige Hand. Während der Straßenlärm draußen von dem geschlossenen Fenster abprallte wie das schwache Echo weit entfernter Freuden, war hier drinnen nur das Rascheln der Zeitung zu hören und hin und wieder das leise Klappern und Schlürfen, wenn Sartine einen Schluck Tee zu sich nahm.
    Resigniert wandte Sophie sich ab, um das Geschirr zu waschen. Nein, sie war ihrem Mann nicht böse, sie war nur traurig. Und diese Trauer saß so tief und fest in ihr, dass sie sich nicht vorstellen konnte, je davon erlöst zu werden.
    »Können wir nächsten Sonntag nicht auch mal aufs Land? Was meinst du?«
    »Aufs Land? Ja, warum nicht, ich will darüber nachdenken.« Sartine zog seine Repetieruhr aus der Tasche und blickte auf das Zifferblatt. »Was, so

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