Die Philosophin
als er das Gotteshaus betrat. Auf der Kanzel unweit des weiß schimmernden Marmoraltars stand Père Radominsky und predigte zu einer kleinen Schar Zuhörer, die sich zu seinen Füßen bereits versammelt hatte. Sartine schlug das Kreuzzeichen und rückte in eine Bank.
»Die Philosophen machen mobil«, rief der Jesuitenpater und hob einen gebundenen Prospekt in die Höhe. »Mit dieser Schrift hier, gedruckt in achttausend Exemplaren, fordern sie zur Subskription ihrer Enzyklopädie auf. Acht Textbändeundsechshundert Bildtafeln kündigen sie an, die ohne Unterbrechung aufeinander folgen sollen.«
Sartine schaute sich um. Die Worte des Paters machten auf seine Kollegen offenbar keinen großen Eindruck. Aber war das verwunderlich? Nur wenige der Inspektoren und Sergeanten gingen ihrer Arbeit aus innerer Überzeugung nach; für die meisten von ihnen war der Polizeidienst ein Broterwerb wie jeder andere. Ob sie Philosophen oder Prostituierte verfolgten, machte in ihren Augen keinen Unterschied, geschweige denn in den Augen der Spitzel und Zuträger, die Seite an Seite mit den königlichen Staatsbeamten saßen, käufliche Groschenjungen, die für ein paar Sous ihre eigenen Eltern verraten würden. Sartine verachtete sie. Sie waren kaum besser als das Gesindel, das sie überwachten.
»Die Philosophen«, fuhr Radominsky fort, »versprechen den Lesern ihrer Enzyklopädie, ein allgemeines Bild von den Leistungen des menschlichen Geistes zu geben, auf allen Gebieten und in allen Jahrhunderten. Sie rühmen sich, ein Werk zu schaffen, wie es noch keines zuvor gegeben habe, lehrreicher als alle Bücher dieser Welt. Sie nennen es gar ein Heiligtum, in dem sie die Kenntnisse der Menschheit vor den Stürmen der Zeit schützen und bewahren. Tatsächlich aber haben sie nichts anderes im Sinn, als eben solche Stürme selber zu entfachen. Was die Philosophen planen, ist eine Revolution! Eine Aufkündigung aller Werte! Eine neue Ordnung der Dinge! Im Himmel und auf Erden!«
Sartine hörte dem Prediger aufmerksam zu, jedes seiner Worte sorgfältig prüfend. Pater Radominsky war, daran gab es keinen Zweifel, ein Mann, der in der Erfüllung seiner Pflicht ganz und gar aufging. Er glaubte, was er sagte, und sagte, waser glaubte. Er war ein Soldat, geradlinig und unbeirrbar, und kein persönlicher Vorteil würde ihn dazu bewegen, seine Sache zu verraten. Unwillkürlich musste Sartine an Malesherbes denken. War der neue Chef der Zensurbehörde ein ebenso unbestechlicher Charakter? Sartine wusste es nicht, doch sollte er je gezwungen sein, sich zwischen diesen beiden Männern zu entscheiden – er würde nicht lange zögern, um seine Wahl zu treffen.
Er räusperte sich und hob die Hand.
»Sie haben eine Frage?« Verwundert unterbrach Radominsky seine Rede.
Sartine spürte, wie alle Augen sich auf ihn richteten. Er musste sich ein zweites Mal räuspern, bevor er sprach.
»Welche Grundlage haben wir, um gegen Diderot und seine Komplizen vorzugehen? Die Enzyklopädie ist ein legales Unternehmen. Der König hat ihr sein Druckprivileg erteilt.«
»Sie haben Recht«, erwiderte der Pater. »Doch wenn der König die Gefahr verkennt, müssen wir umso wachsamer sein. Sie, die Soldaten der Polizei, sind aufgerufen, es uns Beichtvätern gleichzutun! Hören Sie alles an, aber behalten Sie alles für sich! Sie kennen die Menschen und ihre Verbrechen, ihre Versuchungen und ihre Laster, Sie wissen, wozu sie imstande sind. Ihr Misstrauen darf Sie niemals verlassen, Ihr Zweifel niemals ruhen.«
»Was erwarten Sie von uns,
mon père?«
»Hinweise, Spuren, Beweise – vor allem aber Verhaftungen! Jeden, der mir einen Enyzklopädisten liefert, werde ich persönlich belohnen.«
Radominsky schaute ihn so eindringlich an, als würden seine Worte ihm ganz allein gelten. Sartine erwiderte den Blick.
War das die Chance, auf die er schon seit langem wartete? Die Chance, sich vor seinem Dienstherrn auszuzeichnen? Für seine Frau – für Sophie?
6
Sophies Hände zitterten, während sie das Buch wie einen kostbaren Schatz betrachtete.
Die geschwätzigen Kleinode …
Was für ein seltsamer Titel! Welche Geschichte sich wohl dahinter verbarg? Mit klopfendem Herzen schlug sie den Deckel auf. Endlos lange Minuten hatte sie der Versuchung widerstanden und das Buch immer wieder in die Schublade zurückgelegt, in der Sartine es vor ihr verbarg, doch als die Dämmerung anbrach, war ihr Widerstand dahingeschwunden. Gierig wie ein Branntweintrinker, der nach allzu
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