Die Philosophin
spät?«, sagte er dann, plötzlich in Eile. Er trank einen letzten Schluck Tee, faltete die Zeitung zusammen und stand auf. »Ich muss noch mal fort.«
»Heute? Am Sonntagabend? Ich dachte, wir würden vielleicht …«
»Ein wichtiger Einsatz, leider.« Er streichelte ihre Wange, so flüchtig, dass sie die Berührung kaum spürte. »Übrigens,man hat mir versprochen, wenn ich mich weiter wie bisher bewähre, bekomme ich in diesem Jahr vielleicht eine Woche Urlaub. Dann könnte ich nach Beaulieu fahren, für dich.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie wollte die Arme um ihn schlingen, um seinen Kuss zu erwidern, mit einem richtigen Kuss, doch er wehrte sie ab, ebenso sanft wie entschieden.
»Jetzt nicht!« Und mit einem müden Kopfschütteln: »Tut mir wirklich Leid.«
Wenig später hörte sie, wie er im Treppenhaus die Stiege hinabging, hörte jeden seiner Schritte, Stufe für Stufe, so deutlich, dass sie ihn dabei vor sich sah, seine Haltung, sein Gesicht.
Ob er jetzt erleichtert war, nicht mehr in ihrer Nähe sein zu müssen?
Nein, es war nicht Geldgier, weshalb Sartine auf die Idee verfallen war, sonntags einen Kostgänger an ihren Tisch zu laden. Er wollte nur vermeiden, allein mit ihr zu sein. Das war die einfache Wahrheit, Sophie hatte es längst erkannt. Aber warum? Was hatte er gegen sie? Sie wusste nicht, wie lange sie das noch aushalten würde, ohne wahnsinnig zu werden.
Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf die Kommode, in der ihr Mann das Buch versteckt hielt, in dem er manchmal las, bevor sie sich zum Schlafen niederlegten.
Was war das für ein Buch, das er dort vor ihr verbarg?
Kaum stieg die Frage in ihr auf, befiel sie jenes drängende, unabweisbare Gefühl, das sich früher, als sie noch alleine lebte, in so vielen Nächten ihrer bemächtigt hatte wie eine Versuchung, in ihrer Kammer über dem »Procope«, wennsie vor ihrem Schatzkästlein saß, der kleinen Kiste voller Buchstaben und Schriftzeichen, und sie nicht wusste, ob sie es öffnen sollte oder nicht.
5
In dem Gewühl der Ausflügler war fast kein Vorwärtskommen. Was für eine liederliche Gesellschaft, dachte Sartine, während er sich mühsam seinen Weg bahnte. Überall blickte er in die Gesichter von Liebespaaren, die in der Abendsonne selig von den viehischen Vergnügungen in den Dorfkneipen leuchteten, wo Männer und Frauen sich sinnlos betranken und barfuß im Kreise tanzten und dabei so viel Staub aufwirbelten, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah. Nach solchen Vergnügungen sehnte sich seine Frau … Bei der Erinnerung an Sophies trauriges Gesicht schmerzte das schlechte Gewissen Antoine Sartine wie ein krankes Herz, und einmal mehr verfluchte er seinen elenden Körper.
Aber gab es nicht Wichtigeres, was ein Mann für seine Frau tun konnte, als sie am Sonntagnachmittag auszuführen? Er hoffte, dass er endlich Urlaub bekam – er würde alles daransetzen, um Licht in Sophies Vergangenheit zu bringen. Damit sie nicht länger unter den fürchterlichen Ereignissen ihrer Kindheit zu leiden brauchte, die sie mit sich durchs Leben schleppte wie einen großen schweren Sack, der an ihrem Rücken festgenäht war.
Wenn sie nur bereit wäre, ihm zu helfen! Nach ihrer Heirathatte er Sophie aufgefordert, Augen und Ohren im »Procope« offen zu halten und ihm alles zu melden, was ihr verdächtig erschien. Aber sie hatte ihm nie etwas berichtet, obwohl es in dem Café von Aufrührern nur so wimmelte. Weshalb nicht? Weil sie ihre Gäste nicht bespitzeln mochte? Er konnte in solchen Ermittlungen nichts Schlechtes erkennen, sie dienten dem Wohl von Kirche und Staat. Er selbst besorgte sich seine Informationen ja auch aus den verschiedensten Quellen, erkundigte sich bei Hauswirtinnen und Beichtvätern, befragte Nachbarn von Verdächtigen, verschmähte Geliebte, zornige Söhne und vernachlässigte Gattinnen. Trotzdem respektierte er das Verhalten seiner Frau. Weil er sie liebte.
Sartine überquerte die Place Royale. Vor ihm erhob sich die dreigeschossige, Ehrfurcht gebietende Fassade der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis, unter deren Kuppel sich die Pariser Jesuiten versammelten. Hier fand die Lagebesprechung statt, zu der man ihn gerufen hatte. Eilig stieg er die wenigen Stufen zu der Kirche empor, wo ihn zwei Mönche empfingen, um seine Legitimation zu prüfen. Nachdem er seinen Namen und seine Mission genannt hatte, traten sie beiseite und öffneten das Portal.
Wie ein Ruf des Allmächtigen scholl ihm eine Stimme entgegen,
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