Die Philosophin
langer Enthaltsamkeit das erste Glas leert, sog sie die Buchstaben in sich auf.
»Es war im Erdenjahr 150 000 003 200 001, als die Herrschaft Mongaguls begann. In weniger als zehn Jahren erwarb der Sultan sich den Ruf eines bedeutenden Mannes. Er führte Schlachten, befestigte Städte, vergrößerte sein Reich und befriedete die Provinzen. Und nicht weniger beliebt als auf dem Thron erwies er sich in seinem Serail: Er war sanft, galant und voller Liebreiz. Die Reize und Vorzüge der jungen Mirzoza aber aufzuzählen muss ich mir versagen, würde ein solches Werk doch kein Ende nehmen …«
Sophie traute ihren Augen nicht: Was sie da las, war
ihre
Geschichte, der Roman, den Diderot ihr geschenkt hatte.
Sie schaute auf den Einband – der Verfassername fehlte, nur der Druckort war angegeben: Kythera. Was hatte das zu bedeuten? Die Figuren in der Geschichte waren dieselben, die sie kannte, der Sultan Mongagul und die Prinzessin Mirzoza, ebenso der Herrscherpalast, alles stimmte mit ihrer Erinnerung überein, sogar der Magier Cucufa tauchte wieder auf. Irritiert las sie weiter.
»›Hätte es dem Himmel, der mich auf diesen Thron gesetzt hat, einst gefallen, dass ich von niedriger Herkunft wäre – wäret Ihr dann‹, fragte Mongagul die Favoritin, ›zu mir herabgestiegen, um mir die Krone zu reichen?‹ – ›Sollte Mirzoza‹, erwiderte die Favoritin, ›die wenigen Reize, die man an ihr erkennen mag, einst verlieren, würde Mongagul sie immer noch lieben?‹«
Sophie entzifferte die Buchstaben, die Wörter, die Sätze, ohne ihren Sinn zu verstehen. Ja, es war dieselbe Geschichte, die sie da las. Und doch, wie sehr hatte sich alles verändert! Die Liebe zwischen Mongagul und Mirzoza war erkaltet, das Feuer der Favoritin ganz und gar erloschen. Sie war so wenig bereit, die Zärtlichkeiten des Sultans zu empfangen, wie dieser geneigt schien, ihr welche entgegenzubringen. In der Ödnis ihrer Zweisamkeit riefen sie den Magier herbei, der dem Sultan und seiner Favoritin Auskunft über die Liebesabenteuer der Hofdamen geben sollte, um sie aus ihrer Langeweile zu erlösen. Cucufa schenkte Mongagul einen Zauberring, dessen Edelstein, sobald er auf das Kleinod einer Frau gerichtet wurde, dieses dazu brachte, alle ihre Affären zu enthüllen. Was aber war mit dem Kleinod einer Frau gemeint? Sophie hatte eine dunkle Ahnung, hätte sich am liebsten die Antwort erspart, doch der Roman ließ keinen Zweifel, wovon die Rede war, so wenig wie die Bilder, diesie nun entdeckte, Bilder von entblößten Leibern, die sich umund ineinander wanden. Es war, als würden die Kleinode das Leben jeder Frau bestimmen.
»Die Spröde: Sie tut so, als würde sie ihr Kleinod nicht hören. Die Galante: Ihr Kleinod verlangt viel von ihr, und sie gewährt ihm noch mehr. Die Kokette: Ihr Kleinod ist stumm oder findet kein Gehör; doch flößt sie allen Männern, die sich ihr nähern, die Hoffnung ein, dass ihr Kleinod eines Tages reden und sie sich dann nicht taub stellen könne.«
Dunkle Nacht senkte sich über die Stadt, doch Sophie merkte es nicht. Im Schein einer Lampe las sie weiter, Seite um Seite, ganz im Bann dieser Geschichte, die einst die ihre gewesen war. Was für eine kalte, berechnende Frau war aus der zartfühlenden Mirzoza geworden! Um Mongagul für alle Zeit an sich zu binden, richtete sie ihm einen Harem ein mit tausend Gespielinnen. So konnte sie die Favoritin des Sultans bleiben, ohne selbst den Liebespflichten nachzukommen, nach denen es sie nicht mehr verlangte: eine Kupplerin wie die Matronen jener Häuser, von denen Sophie aus ihrer Zeit im Faubourg Saint-Marceau wusste, Häuser in der Nachbarschaft ihrer Tabakschenke, wo alte Frauen Männern junge Mädchen zuführten, je nach Geschmack und Belieben.
»Alcine war lebhaft und hübsch. Der Hof des Sultans besaß kaum eine reizendere Frau und bestimmt keine galantere. Mongagul richtete seinen Ring auf sie, und augenblicklich vernahm man ein Raunen unter ihren Röcken … In rascher Folge richtete Mongagul seinen Ring auf alle Frauen außer auf Mirzoza, und alle Kleinode gaben eines nach dem anderen Antwort: ›Ich werde häufig besucht, ich bin beschädigt, verlassen, parfümiert, erschöpft, schlecht bedient, gelangweilt …‹«
Die Buchstaben verschwammen vor Sophies Augen, während Tränen an ihren Wangen herabliefen. Immer scheußlicher, immer widerwärtiger wurden die Geschichten, die der Ring des Magiers den Kleinoden der Frauen entlockte. Noch nie hatte Sophie von
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