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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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solchen Dingen gehört: Paare, die sich unter freiem Himmel liebten, in öffentlichen Bädern und vor fremden Augen, zu zweit, zu viert, im Dutzend … Gegen ihren Willen spürte sie das Kribbeln in ihrem Nacken, fühlte, wie die Lust ihren sehnenden Leib mehr und mehr in Besitz nahm, jenes drängende, unabweisbare Verlangen, das seinen Ursprung zwischen ihren Schenkeln hatte, um sich von dort in ihrem ganzen Körper auszubreiten wie ein warmer Strom, als wären die ungeheuerlichen Fantasien, die den Buchstaben vor ihren Augen entstiegen, Antwort auf all die Enttäuschungen und Entbehrungen, die sie in den zwei Jahren ihrer Ehe erfahren und erlitten hatte. Oder als würde ihr eigenes Kleinod zu reden anfangen.
    »Was tust du da?«
    Sophie hatte nicht gehört, dass ihr Mann zurückgekehrt war.
    Sartine schaute sie an, als wäre sie eine Fremde. Sein sonst so freundliches Gesicht war ausdruckslos, seine Augen blickten hart und kalt. So musste er aussehen, wenn er jemanden verhaftete.
    »Das ist nichts für dich«, sagte er und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Oder willst du dich an den Bildern schadlos halten?«
    »Schadlos? Wofür?« Vollkommen durcheinander flüsterte sie:
    »Ich begreife das alles nicht.«
    »Was begreifst du nicht?«, fragte er scharf.
    »Alles«, stammelte sie. »Die ganze Geschichte hat sich verändert, die Menschen, was sie tun … Nichts ist mehr so, wie eswar. Die Prinzessin, Mirzoza, wie konnte sie so werden? Sie hat den Sultan doch geliebt …«
    Ohne die Tränen zu spüren, die an ihren Wangen herabrannen, ohne die Worte zu hören, die sie selber sagte, starrte sie Sartine an, griff nach seinen Händen, als suche sie bei ihm Halt.
    Ihr Mann aber rührte sich nicht.
    »Woher weißt du, wie die Prinzessin heißt?«, fragte er. »Woher kennst du überhaupt die Geschichte? Du kannst doch gar nicht lesen!« »Die Geschichte gehört mir«, sagte sie, gefangen im Dunkel ihrer Gefühle. »Er hat sie mir doch geschenkt …«
    »Er?
Wer ist
er?«
    »Diderot …«, flüsterte sie.
    Erst jetzt verlor Sartine seine Fassung.
    »Was sagst du da?«, fragte er, das Gesicht voll ungläubigem Staunen. »Diderot? Soll das heißen,
er
hat diese Schweinereien geschrieben?«

7
     
    »Manchmal frage ich mich, was Sie wirklich wollen, Diderot.
    Ein Nachschlagewerk oder eine Kriegsmaschine?«
    »Ist das nicht dasselbe? Jedes Wort, das der Wahrheit entspringt, ist eine Waffe, jeder Artikel ein Sturmgeschütz des Geistes gegen den Aberglauben.«
    »Mag sein.« D’Alembert wog nachdenklich den Kopf. »Doch wenn das so ist, haben wir doppelten Grund zur Vorsicht.
    Wir dürfen den Bogen nicht überspannen. Ein Stirnrunzeln des Zensors, und wir landen in der Bastille. Alles hängt von den Grenzen ab, die wir ziehen, von der Ordnung, die wir den Dingen geben. Sie darf uns auf keinen Fall verraten.«
    Umgeben von Diderots Zettelkästen, brüteten die Herausgeber der Enzyklopädie über der schwierigsten Aufgabe des ganzen Werks. Unendlich war das Meer des Wissens, durch das sie navigierten. Nach welchen Prinzipien konnten sie es gliedern? Erst eine völlig neue Ordnung der Dinge, die systematische Verkettung allen Wissens, würde den eigentlichen Wert ihres Werkes ausmachen. Darin waren sie sich beide einig. Die Enzyklopädie sollte im Unterschied zu gewöhnlichen Wörterbüchern, die einzelne Begriffe gesondert für sich definierten, eine vollständige Weltkarte des menschlichen Geistes werden, die nicht nur die verschiedenen Bereiche der Erkenntnis abbildete, sondern zugleich auch ihre Lage und Größe wiedergab, ihre wechselseitige Abhängigkeit sowie ihre Verbindungen untereinander – wie die Länder auf einer geografischen Karte. Doch wie war es um diese Beziehungen bestellt? Wie verhielt sich die Wissenschaft zur Kunst? Wie die Kunst zum Handwerk? Wie das Handwerk zur Technik? Wie die Technik zur Philosophie? Wie die Philosophie zur Theologie? Seit Wochen rangen die beiden schon um Antworten auf diese Fragen, ordneten, gliederten, verwarfen, um immer wieder von vorn zu beginnen.
    »Ist letztlich nicht jeder Versuch, die Wirklichkeit in ein System zu pressen, vollkommen willkürlich?«, fragte Diderot mit einem Anflug von Verzweiflung. »Die Wirklichkeit bietet uns ja nur beliebige Einzeldinge, ohne feste Unterteilungen.
    Alles fließt, geht ineinander über, unmerklich, in kaum wahrnehmbaren Nuancen. Wie können wir da hoffen, die wahren Verhältnisse zu treffen?«
    »Wissenschaftlich betrachtet haben wir nur eine

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