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Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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sie voneinander getrennt waren, erfüllte sie mit einer Art innerer Musik: Wo immer sie ging oder stand, was immer sie anfing oder tat – es war, als würde sie einen Jubelchor hören, den niemand sonst vernahm.
    Wie hatte sie nur so viele Jahre anders leben können?
    Nachdem Sophie ihren Ehemann verlassen hatte, war sie nie wieder in seine Wohnung zurückgekehrt. Sie hatte ihm den silbernen Ring, den er ihr in der Hochzeitsnacht geschenkt hatte, mit der Post geschickt, zusammen mit anderen Wertsachen, die aus ihrer Ehe stammten. Nur den Glücksbringeraus Beaulieu, die Kette mit dem geschnitzten Engel, der ein bisschen wie ein Totenkopf aussah, hatte sie behalten – es war der einzige Gegenstand, der sie mit ihrer Heimat verband. Sie bewahrte die Kette zwischen ihrer Wäsche auf.
    Ihre Anstellung im Café »Procope« hatte sie aufgegeben. Sie arbeitete nun als Zofe im Haus eines Monsieur Poisson, seines Zeichens Generaldirektor für das Bauwesen und die Künste in Paris; ihr alter Patron hatte sie empfohlen, Sophie kannte Monsieur Poisson bereits aus dem Kaffeehaus. Obwohl noch keine dreißig Jahre alt, machte er mit seiner ebenso eleganten wie fülligen Figur den Eindruck eines Mannes, dessen Ehrgeiz sich darin erschöpfte, dreimal am Tag gut zu speisen. Sophie hätte es besser nicht treffen können. Ihr neuer Herr behandelte sie mit einer Freundlichkeit, die manchmal wie Schüchternheit wirkte, und mehr noch als ihr Geschick im Haushalt und in der Küche schätzte er ihre Gabe, aus Romanen und Dramen vorzulesen. Mit sichtlichem Wohlbehagen lauschte er ihrer Lektüre, manchmal ganze Abende lang, und konnte darüber sogar die Mahlzeiten vergessen. Zur Belohnung entband er Sophie weitgehend von den gewöhnlichen Pflichten im Haus, sodass sie fast täglich mehrere Stunden mit ihrem Geliebten verbringen konnte.
    Diderot hatte sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis von Madame de Puisieux getrennt, doch lebte er weiter bei seiner Familie in der Rue de l’Estrapade. Der kleine Didier war im Winter an einer fiebrigen Erkältung gestorben. Zur Beerdigung war Diderots alter Vater aus Langres angereist, zum ersten Mal, seit der Sohn die Heimat verlassen hatte, und hatte ihm an Didiers Grab das Versprechen abgenommen, immer für seine Familie zu sorgen. Auch wenn die Heiligkeit der Ehe dahin war, sollte doch der Anstand gewahrt bleiben –so hatte der Alte es verlangt. Diderots größter Wunsch, den er in einer zärtlichen Stunde Sophie anvertraute, aber war, dass sie ihm einen neuen Sohn schenkte.
    »Für einen Sohn von dir«, sagte er, »würde ich alles hingeben, sogar mein Werk, sogar die Enzyklopädie.«
    Sophie schloss ihn in die Arme, zutiefst berührt von seinen Worten. Konnte es einen größeren Beweis seiner Liebe geben?
    »Ja, mein Liebster«, flüsterte sie. »Du sollst einen Sohn von mir haben. Das verspreche ich dir.«
    Eines Tages fragte Diderot sie, ob sie ein Manuskript für ihn ins Reine schreiben könne – einen Text über die Zubereitung von Schokolade. Glücklich über sein Vertrauen, nahm sie die Seiten an sich. Im Haus von Monsieur Poisson hatte sie eine eigene Dachkammer, wo sie ungestört arbeiten konnte. Bereits am nächsten Tag gab sie Diderot die fertige Abschrift zurück.
    »Hast du alles lesen können?«, fragte er.
    »Sogar die Fehler«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
    »Fehler?«, fragte er verdutzt.
    »Du hast die Mengenangaben von Vanille und Zimt verwechselt. Es stört dich doch nicht, dass ich sie korrigiert habe?«
    Es dauerte nicht lange, und Sophie wurde zu einer festen Mitarbeiterin der Enzyklopädie. Sie kopierte Manuskripte für den Druck, exzerpierte aus wissenschaftlichen Werken, korrigierte Fahnenabzüge und verglich sie mit den Vorlagen. Was für wunderbare Welten taten sich ihr auf! Da gab es Tiere und Pflanzen, deren Namen sie noch nie gehört hatte, Berge, die unter ewigem Schnee und Eis begraben lagen, Flüsse, die breiter waren als Meeresarme. Gleichzeitig lernte sie die Ideen der Philosophen kennen, früher als jeder Subskribent. Wissbegierig sog sie die neuen Lehrenin sich auf, über die Rechte und Pflichten der Menschen, über die Formen ihres Zusammenlebens, vor allem aber über ihr Recht auf Glück. Dabei ordnete sich in Sophies Kopf auf wunderbare Weise das Chaos der verstreuten Kenntnisse, das sie in den vielen Jahren wahlloser Lektüre von allem Gedrucktem angesammelt hatte. Als würden die zahllosen Zettel und Seiten, die Bruchstücke und Fragmente von

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