Die Philosophin
geschlafen, dass sie nicht einmal aufwachten, als die Glocke der Sorbonne sie zum Angelus rief. Dabei enthält meine Dissertation mehr Sprengstoff als das Arsenal von Paris. Sie haben mir den Doktorhut aufgesetzt, ohne eine einzige Zeile zu lesen.
Jerusalem coelesti
– das ›himmlische Jerusalem‹ im Titel genügte, um die Herren ruhig schlafen zu lassen. Sie haben mir sogar zu meinem schönen Latein gratuliert. Die Arbeit sei voller poetischer Bilder und Metaphern.«
»Ja«, bestätigte Diderot, »die Arroganz der Macht wird nur von ihrer Ignoranz überboten.«
Melchior Grimm blickte die zwei mit ungläubigem Staunen an.
»Trotzdem«, sagte er schließlich, »haben Sie keine Angst, dass die Sache irgendwann auffliegt?«
5
In jeder freien Minute widmete sich Sophie der Enzyklopädie. Sobald Monsieur Poisson sie für ein paar Stunden entließ, machte sie sich auf den Weg in die Rue de la Harpe, um sich mit Diderot zu treffen, oder sie stieg, wenn sie ihren Geliebten nicht sehen konnte, hinauf in ihre Kammer. Was für ein Glück, dass sie ein eigenes Zimmer hatte! Möblierte Zimmer waren schmutzig, von den Wänden hingen verfaulte Tapeten herab, und durch die Fenster pfiff der Wind. In ihrer Mansarde dagegen konnte sie ruhig und ungestört arbeiten. Hier hatte sie sich ein richtiges Büro eingerichtet, mit einem großen Brett als Schreibtisch und mehreren kleinen Brettern als Regal, auf dem sich Dutzende von Manuskripten stapelten, in sauberen Stößen und alphabetisch sortiert, zusammen mit dem ersten Band der Enzyklopädie. Wenn sie dieses Regal sah, musste sie immer noch staunen. War es nicht ein Wunder? Das Wissen dieser Welt in ihrer kleinen Kammer! Nur manchmal, wenn sie plötzlich Schritte im Treppenhaus hörte, beschlich sie eine Frage: Was würde ihr Herr wohl sagen, wenn er zu lesen bekäme, was sie da unter seinem Dach aufbewahrte?
Sie war gerade mit der Reinschrift eines Artikels beschäftigt,als die Tür aufging. Robert steckte seinen Kopf durch den Spalt, der Leibdiener Monsieur Poissons, ein Mann von fast vierzig Jahren, mit dunklen Haaren und noch dunklerem Blick. Sophie mochte ihn nicht besonders leiden; morgens ging Robert zur Messe und abends betrank er sich, außerdem verbeugte er sich immer einen Kopf tiefer vor der Herrschaft als nötig – ein Lakai durch und durch. Instinktiv bedeckte sie das Manuskript mit ihren Händen, doch während sie noch versuchte, die Seiten vor seinen Blicken zu schützen, griff er einfach in das Regal, nahm die Enzyklopädie und begann darin zu lesen.
»Wenn die Natur irgendeine Autorität geschaffen hat, so ist es die väterliche Macht; aber die väterliche Macht hat ihre Grenzen, und im Naturzustand würde sie aufhören, sobald die Kinder in der Lage wären, sich selbst zu leiten.«
»Stell das sofort wieder hin!«, rief Sophie und sprang auf. Robert machte nur einen Schritt zurück und las weiter: »Gibt es denn keine ungerechte Macht? Gibt es nicht Autoritäten, die keineswegs von Gott stammen, sondern gegen seine Gebote und seinen Willen geschaffen werden? Haben die Usurpatoren etwa Gott für sich?« Erst jetzt ließ er den Band sinken und schaute Sophie an. »Was ist das für ein Buch?«
»Wozu willst du das wissen?«
»Weil es mich interessiert. Hast du daraus Monsieur schon vorgelesen?«
»Willst du mich verraten?«
Sophie erwiderte seinen Blick. Die anderen Dienstboten nannten ihn »Robert der Teufel«, weil er manchmal fürchterliche Wutanfälle bekam, vor allem, wenn er betrunken war. Doch jetzt sah er eher traurig aus, als hätten Sophies Worte ihn verletzt.
»Ich würde einfach gerne wissen, was das für ein Buch ist«, wiederholte er. »Ich … ich lese nämlich auch recht gern.«
»Ein Wörterbuch«, sagte Sophie unwillig. An seinem Gesicht erkannte sie, dass er mit ihrer Auskunft nichts anfangen konnte. Also fügte sie hinzu: »Darin werden Begriffe erklärt, woher sie stammen und was sie bedeuten. Dinge, die man nicht weiß, aber wissen sollte.«
Roberts dunkle Augen leuchteten auf. »So ein Buch habe ich mir schon immer gewünscht.« Er zögerte kurz, dann sagte er. »Würdest du es mir vielleicht leihen?«
»Wie bitte?«, fragte Sophie überrascht.
»Nicht für lange, ich meine, nur wenn du es gerade nicht brauchst. Weil, ich würde gern mehr darin lesen.«
Sophie sah, wie schwer es ihm fiel, seine Bitte zu äußern. Er nagte an seiner Lippe, während er vor lauter Verlegenheit von einem Bein auf das andere trat. Plötzlich
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