Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Philosophin

Die Philosophin

Titel: Die Philosophin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Gedichten und Traktaten, von Dramen und Flugblättern, die sie im »Procope« gefunden und in ihrem Schatzkästlein aufbewahrt hatte, sich nun in ihr zu neuen Mustern formen, Mustern mit klaren, erkennbaren Konturen, wie Eisenspäne auf einem Blatt Papier, wenn plötzlich ein Magnet auf sie einwirkte.
    »Glauben heißt«, so las sie im Entwurf eines Artikels, »von der Wahrheit einer Tatsache überzeugt sein, ohne sie überprüft zu haben. Man ist aber nur selten zufrieden mit sich selbst, wenn man keinen Gebrauch von seiner Vernunft gemacht hat. Wer glaubt, ohne einen Grund zum Glauben zu haben, fühlt sich darum immer schuldig, eben weil er das wichtigste Vorrecht seiner Natur vernachlässigt hat.«
    Die Worte trafen Sophie wie eine persönliche Anklage. War das der Grund ihres Unbehagens, wenn sie an ihre Vergangenheit dachte? Hatte nicht auch sie fremden Behauptungen Glauben geschenkt, ohne sie im Licht ihrer eigenen Vernunft zu überprüfen? Der Verdacht wühlte sie so sehr auf, dass sie die ganze Nacht keinen Schlaf fand. Als sie Diderot am nächsten Tag traf, fasste sie sich ein Herz. Sie musste über ihr früheres Leben sprechen, Antwort finden auf die eine große Frage ihrer Kindheit, die sie immer noch quälte.
    »Warum musste meine Mutter sterben?«
    Diderot hob ihr Kinn und sah sie an. »Weißt du es nicht selber?«
    »Der Pfarrer in meinem Dorf hat gesagt, sie sei an ihren eigenen Sünden zugrunde gegangen. Weil sie Gott versucht und sich mit den Mächten des Bösen eingelassen hat.«
    »Der Aberglaube ist die schrecklichste Plage der Menschheit«, erwiderte Diderot. »Er wirkt wie ein Zauber, den die Furcht auf die Seele ausübt. Er ist ein Tyrann, der die Menschen in Angst und Schrecken hält, um sie zu unterdrücken.«
    »Du meinst, es war nicht die himmlische Verdammnis?«
    »Gott ist nicht der Scharfrichter der Pfaffen. Es ist ein Verbrechen, wenn Menschen in seinem Namen andere Menschen ermorden.«
    »Aber die Hostie, die ich bei meiner Erstkommunion erbrochen habe? War das kein Zeichen?«
    »Der Kräutertrank, den deine Mutter dir gegeben hat, musste auf deinen leeren Magen wie ein Brechmittel wirken. Was soll daran ein Zeichen sein? Höchstens, dass deine Organe in natürlicher Weise reagiert haben.«
    Aufmerksam lauschte Sophie seinen Worten. Als er zu Ende gesprochen hatte, schwieg sie eine Weile. Dann sagte sie: »Weißt du, wie ich mich fühle? Als hätte ich jahrelang in einer engen, dunklen Stube verbracht, und plötzlich stößt jemand eine Tür auf, und ich betrete einen hellen, lichtdurchfluteten Raum.« Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn. »Ich danke dir.«
    So überwand Sophie den Aberglauben ihrer Kindheit, die Vorurteile und Schreckenslehren, mit denen sie aufgewachsen war und die für sie die Welt bedeutet hatten. Sie aß vom Baum der Erkenntnis, doch ohne Angst, weder vor der Liebe noch vor den Büchern, und auch nicht vor dem Leben. Dennwovor sie sich so lange gefürchtet hatte, war längst Wirklichkeit geworden: Sie lebte das Leben ihrer Mutter, liebte und las und dachte und folgte dabei nur ihrem eigenen Herzen und ihrem eigenen Verstand. Doch kein Blitz fuhr auf sie herab, um sie zu strafen – im Gegenteil. Das menschliche Glück, das Diderot und die Philosophen in der Enzyklopädie verkündeten, war kein Märchen, sondern mit Händen zu greifen. Hier auf Erden schon!
    Nur manchmal, wenn Sophie nach einer dieser Begegnungen zurückkehrte in ihre Kammer bei Monsieur Poisson, kam ihr Diderots Frau in den Sinn, und ein kleiner, gemeiner Zweifel nagte an ihr.
    Hatte Diderot diese Frau nicht einmal ebenso geliebt wie sie?usatz

4
     
    Das Verlagshaus in der Rue de la Harpe summte wie ein Bienenkorb. Die Arbeiten für den nächsten Band der Enzyklopädie waren im vollen Gang. Trotz seiner enormen Leibesfülle, die ebenso stetig zuzunehmen schien wie das große Werk selbst, war Le Bréton überall gleichzeitig zu finden. Mit flinken Augen überprüfte er die Bestände – Pressen, Lettern, Druckerschwärze, Leder für die Farbballen, Kerzen, Kiele, Ausschließplatten, Satzschiffe, Rahmen und hundert andere Dinge mehr –, während er über die Schulter seinen Angestellten unentwegt Anweisungen und Befehle zurief. Die Arbeit war schmutzig und laut. Die Pressen kreischten und stöhnten,die Meister schrien die Gesellen an und die Gesellen die Lehrlinge, während die Druckballen, die mit uringetränkter Wolle gefüllt waren, den Gestank eines gigantischen Pissoirs

Weitere Kostenlose Bücher