Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
Flurs nahm ich eine blitzartige Bewegung wahr, und ich ging darauf zu. Saywer hatte es ebenfalls gesehen, seine Krallen schabten über die abgewetzten Holzdielen, als er voranlief.
Er stahl sich ins Wohnzimmer, wo er blitzschnell den Kopf in alle Richtungen warf, um nach dem Hund Ausschau zu halten, dessen Knurren von Zeit zu Zeit noch zu hören war. Das Zimmer war ganz leer, mit Ausnahme von …
Wenn man von bösen Hexen spricht. Abgesehen von der fehlenden grünen Hautfarbe konnte Carla Benandanti auch Elphabas Zwillingsschwester sein: lang gezogenes, käsiges Gesicht, Hakennase, die eine oder andere Warze in Kombination mit knochigen Fingern und langen, mageren Füßen, die in rubinfarbenen Pantoffeln steckten.
Als ich aufsah, blickte ich in Carlas lachende Augen. Brillantblau funkelten sie vor – Leben, Freude und … Magie. All ihre Kräfte spiegelten sich in diesen Augen. Eine böse Hexe konnte unmöglich solche Augen haben, aber warum würde eine gute Hexe das Aussehen einer alten Schabracke annehmen?
„Ich weiß schon, was du denkst“, sagte sie. „Was tut nur eine Hexe wie ich“, – Carla fuhr sich mit ihrer von Altersflecken übersäten Hand über den klapperdürren Körper, der in einem sackartigen Gewand steckte – „an einem Ort wie diesem.“
Genauso gut hätte sie sich auch einen spitzen Hexenhut auf ihre langen, schwarzen und mit Silber durchwirkten Haare setzen können – und fertig.
„Ich bin, wer ich bin“, fuhr sie fort, als ich nichts von mir gab. „Für Glamour habe ich nichts übrig.“
„Hätten Sie denn die Gabe dafür?“
„Ich benutze sie nicht. Schönheit ist vergänglich, nur die Seele währt ewiglich.“ Ihr Lächeln war wie ihr Lachen und nahm mir etwas von der zentnerschweren Last auf meiner Brust. „Lieber lenke ich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf mich. Das ist sicherer.“
„Wie viel sicherer?“
„Eine schöne Frau wird von allen wahrgenommen, eine hässliche vergisst man ganz leicht.“
Saywer trabte an mir vorbei und lenkte mich ab. In jeder Ecke schnüffelte er, lugte unter die Möbel und hinter die Vorhänge, entdeckte aber nichts.
„Wo ist denn Ihr Hund?“, fragte ich. Das Lächeln der Benandanti wurde breiter. „Haben Sie einen unsichtbaren Hund?“
„Ich habe überhaupt keinen Hund.“
„Aber …“
Auf einen Wink ihrer Hand hin ertönte wildes Knurren. Saywer, der gerade mit seinem Kopf unter einem Stuhl steckte, fuhr hoch, schlug sich den Kopf an, rutschte rückwärts heraus und drehte sich dann heftig knurrend zu seinem vermeintlichen Angreifer um. Der Ausdruck in seinem Hundegesicht, als er sich nur mit uns konfrontiert sah, war unbezahlbar.
„Sobald es an der Tür klingelt, zaubere ich das Geräusch herbei“, erklärte uns Carla. „Das vertreibt die meisten.“
„Und wenn nicht?“
Sie zuckte die Achseln. „Dann zaubere ich eben noch einen Hund dazu.“
„Warum bleiben Sie denn hier wohnen, wenn es so gefährlich ist?“
„Manche Orte haben eine magische Energie, und dies ist so ein Ort.“
Dieselbe Energie hatte ich durch die Luft wirbeln gespürt, als ich oben auf Saywers Bergen gestanden hatte, und mit der gleichen Sicherheit hatte mich das kalte Schaudern gepackt, als ich dem Bösen in Form eines Stahl- und Chrombaus begegnet war: der Höhle des Stregas, die sich in die überfüllte Skyline von Manhattan gedrängt hatte. Auch wenn Jimmy und ich das Gebäude in Schutt und Asche gelegt hatten, bezweifelte ich, dass je irgendein neues Gebäude den dort verbliebenen Geistern Frieden geben könnte.
Dieses Haus hier besaß eine Aura, ein Wesen, eine spürbare Präsenz, die aber nichts Böses an sich hatte. Eine Art Vorfreude, ein Gefühl, dass etwas Gutes passieren könnte, wenn man nur wüsste, wo man suchen, mit wem man sprechen und was man tun sollte. Je länger ich hier stand, desto mehr kribbelte meine Haut und desto lauter schien die Luft zu vibrieren.
„Als Kind bin ich mit meinen Eltern hierhergekommen“, erklärte Carla. „Mein Vater hat in einer Autofabrik gearbeitet. Wir hatten ein schönes Leben. Sehr viel schöner als das, was wir hinter uns gelassen hatten. Wir waren glücklich. So glücklich, dass es an Zauberei grenzte. Später habe ich dann herausgefunden, dass dem tatsächlich so war.“
„Was waren Ihre Eltern?“
Bislang war jede Hexe oder Hexenmeister, der mir untergekommen war, zusätzlich immer noch etwas gewesen. Saywer war auch ein Gestaltwandler, seine Mutter ein böser Navajogeist und der
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