Die Physiker
Ist die Möbius gekommen?
OBERSCHWESTER Sie wartet im
grünen Salon.
FRL. DOKTOR Ich lasse bitten.
OBERSCHWESTER Die
Krankheitsgeschichte Möbius.
FRL. DOKTOR Danke.
Die Oberschwester übergibt ihr das Dossier, geht
dann [31] zur Türe rechts hinaus, kehrt sich jedoch vorher noch einmal um.
OBERSCHWESTER Aber
–
FRL. DOKTOR Bitte, Oberschwester
Marta, bitte.
Oberschwester ab. Frl. Doktor von Zahnd öffnet das
Dossier, studiert es am runden Tisch.
Von rechts führt die Oberschwester Frau Rose sowie drei Knaben von vierzehn,
fünfzehn und sechzehn Jahren herein. Der älteste trägt eine Mappe. Den Schluß
bildet Missionar Rose. Frl. Doktor erhebt sich.
FRL. DOKTOR Meine liebe Frau
Möbius –
FRAU ROSE Rose. Frau Missionar
Rose. Ich muß Sie ganz grausam überraschen, Fräulein Doktor, aber ich habe vor
drei Wochen Missionar Rose geheiratet. Vielleicht etwas eilig, wir lernten uns
im September an einer Tagung kennen. Sie errötet und weist
etwas unbeholfen auf ihren neuen Mann. Oskar war Witwer.
FRL. DOKTOR schüttelt ihr die Hand Gratuliere, Frau Rose, gratuliere von ganzem
Herzen. Und auch Ihnen, Herr Missionar, alles Gute. Sie
nickt ihm zu.
FRAU ROSE Sie verstehen unseren
Schritt?
FRL. DOKTOR Aber natürlich, Frau
Rose. Das Leben hat weiterzublühen.
MISSIONAR ROSE Wie still es hier
ist! Wie freundlich. Ein wahrer Gottesfriede waltet in diesem Hause, so recht
nach dem Psalmwort: Denn der Herr hört die Armen und verachtet seine Gefangenen
nicht.
FRAU ROSE Oskar ist nämlich ein
guter Prediger, Fräulein Doktor. Sie errötet. Meine
Buben.
[32] FRL. DOKTOR Grüß Gott, ihr
Buben.
DIE DREI BUBEN Grüß Gott,
Fräulein Doktor.
Der jüngste hat etwas vom Boden aufgenommen.
JÖRG-LUKAS Eine Lampenschnur,
Fräulein Doktor. Sie lag auf dem Boden.
FRL. DOKTOR Danke, mein Junge.
Prächtige Buben, Frau Rose. Sie dürfen mit Vertrauen in die Zukunft blicken.
Frau Missionar Rose setzt sich aufs Sofa rechts,
Frl. Doktor an den Tisch links. Hinter dem Sofa die drei Buben, auf dem Sessel
rechts außen Missionar Rose.
FRAU ROSE Fräulein Doktor, ich
bringe meine Buben nicht grundlos mit. Oskar übernimmt eine Missionsstation auf
den Marianen.
MISSIONAR ROSE Im Stillen Ozean.
FRAU ROSE Und ich halte es für
schicklich, wenn meine Buben vor der Abreise ihren Vater kennenlernen. Zum
ersten und letzten Mal. Sie waren ja noch klein, als er krank wurde, und nun
heißt es vielleicht Abschied für immer zu nehmen.
FRL. DOKTOR Frau Rose, vom
ärztlichen Standpunkt aus mögen sich zwar einige Bedenken melden, aber
menschlich finde ich Ihren Wunsch begreiflich und gebe die Bewilligung zu
diesem Familientreffen gern.
FRAU ROSE Wie geht es meinem
Johann Wilhelmlein?
FRL. DOKTOR blättert im Dossier Unser guter Möbius macht weder Fort- noch Rückschritte,
Frau Rose. Er puppt sich in seine Welt ein.
FRAU ROSE Behauptet er immer
noch, daß ihm der König Salomo erscheine?
[33] FRL. DOKTOR Immer noch.
MISSIONAR ROSE Eine traurige,
beklagenswerte Verirrung.
FRL. DOKTOR Ihr strammes Urteil
erstaunt mich ein wenig, Herr Missionar Rose. Als Theologe müssen Sie doch
immerhin mit der Möglichkeit eines Wunders rechnen.
MISSIONAR ROSE Selbstverständlich – aber doch nicht bei einem Geisteskranken.
FRL. DOKTOR Ob die
Erscheinungen, welche die Geisteskranken wahrnehmen, wirklich sind oder nicht,
darüber hat die Psychiatrie, mein lieber Missionar Rose, nicht zu urteilen. Sie
hat sich ausschließlich um den Zustand des Gemüts und der Nerven zu kümmern,
und da steht’s bei unserem braven Möbius traurig genug, wenn auch die Krankheit
einen milden Verlauf nimmt. Helfen? Mein Gott! Eine Insulinkur wäre wieder
einmal fällig gewesen, gebe ich zu, doch weil die anderen Kuren erfolglos
verlaufen sind, ließ ich sie bleiben. Ich kann leider nicht zaubern, Frau Rose,
und unseren braven Möbius gesund päppeln, aber quälen will ich ihn auch nicht.
FRAU ROSE Weiß er, daß ich mich
– ich meine, weiß er von der Scheidung?
FRL. DOKTOR Er ist informiert.
FRAU ROSE Begriff er?
FRL. DOKTOR Er interessiert sich
kaum mehr für die Außenwelt.
FRAU ROSE Fräulein Doktor.
Verstehen Sie mich recht. Ich lernte ihn als fünfzehnjährigen Gymnasiasten im
Hause meines Vaters kennen, wo er eine Mansarde gemietet hatte. Er war ein
Waisenbub und bitter arm. Ich ermöglichte ihm das Abitur und später das [34] Studium
der Physik.
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