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Die Physiker

Die Physiker

Titel: Die Physiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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An seinem zwanzigsten Geburtstag haben wir geheiratet. Gegen den
Willen meiner Eltern. Wir arbeiteten Tag und Nacht. Er schrieb seine
Dissertation, und ich übernahm eine Stelle in einem Transportgeschäft. Vier
Jahre später kam Adolf-Friedrich, unser Ältester, und dann die beiden andern
Buben. Endlich stand eine Professur in Aussicht, wir glaubten aufatmen zu
dürfen, da wurde Johann Wilhelm krank, und sein Leiden verschlang Unsummen. Ich
trat in eine Schokoladefabrik ein, meine Familie durchzubringen. Bei Tobler. Sie wischt sich still eine Träne ab. Ein Leben lang mühte
ich mich ab.
    Alle sind ergriffen.
    FRL. DOKTOR   Frau Rose, Sie sind
eine mutige Frau.
    MISSIONAR ROSE   Und eine gute
Mutter.
    FRAU ROSE   Fräulein Doktor. Ich
habe bis jetzt Johann Wilhelm den Aufenthalt in Ihrer Anstalt ermöglicht. Die
Kosten gingen weit über meine Mittel, aber Gott half immer. Doch nun bin ich
finanziell erschöpft. Ich bringe das zusätzliche Geld nicht mehr auf.
    FRL. DOKTOR   Begreiflich, Frau
Rose.
    FRAU ROSE   Ich fürchte, Sie
glauben nun, ich hätte Oskar nur geheiratet, um nicht mehr für Johann Wilhelm
aufkommen zu müssen, Fräulein Doktor. Aber das stimmt nicht. Ich habe es jetzt
noch schwerer. Oskar bringt sechs Buben in die Ehe mit.
    FRL. DOKTOR   Sechs?
    MISSIONAR ROSE   Sechs.
    FRAU ROSE   Sechs. Oskar ist ein
leidenschaftlicher Vater. Doch nun sind neun Kinder zu füttern, und Oskar ist [35]  durchaus nicht robust, seine Besoldung kärglich. Sie
weint.
    FRL. DOKTOR   Nicht doch, Frau
Rose, nicht doch. Keine Tränen.
    FRAU ROSE   Ich mache mir die
heftigsten Vorwürfe, mein armes Johann Wilhelmlein im Stich gelassen zu haben.
    FRL. DOKTOR   Frau Rose! Sie
brauchen sich nicht zu grämen.
    FRAU ROSE   Johann Wilhelmlein
wird jetzt sicher in einer staatlichen Heilanstalt interniert.
    FRL. DOKTOR   Aber nein, Frau
Rose. Unser braver Möbius bleibt hier in der Villa. Ehrenwort. Er hat sich
eingelebt und liebe, nette Kollegen gefunden. Ich bin schließlich kein
Unmensch.
    FRAU ROSE   Sie sind so gut zu
mir, Fräulein Doktor.
    FRL. DOKTOR   Gar nicht, Frau
Rose, gar nicht. Es gibt nur Stiftungen. Der Oppelfonds für kranke
Wissenschafter, die Doktor-Steinemann-Stiftung. Geld liegt wie Heu herum, und
es ist meine Pflicht als Ärztin, Ihrem Johann Wilhelmlein davon etwas
zuzuschaufeln. Sie sollen mit einem guten Gewissen nach den Marianen dampfen
dürfen. Aber nun wollen wir doch unseren guten Möbius mal herholen.
    Sie geht nach dem Hintergrund und öffnet die Türe
Nummer 1. Frau Rose erhebt sich aufgeregt.
    FRL. DOKTOR   Lieber Möbius. Sie
erhielten Besuch. Verlassen Sie Ihre Physikerklause und kommen Sie.
    Aus dem Zimmer Nummer 1 kommt Johann Wilhelm
Möbius, ein vierzigjähriger, etwas unbeholfener Mensch. [36]  Er schaut sich
unsicher im Zimmer um, betrachtet Frau Rose, dann die Buben, endlich Herrn
Missionar Rose, scheint nichts zu begreifen, schweigt.
    FRAU ROSE   Johann Wilhelm.
    DIE BUBEN   Papi.
    Möbius schweigt.
    FRL. DOKTOR   Mein braver Möbius,
Sie erkennen mir doch noch Ihre Gattin wieder, hoffe ich.
    MÖBIUS starrt
Frau Rose an   Lina?
    FRL. DOKTOR   Es dämmert, Möbius.
Natürlich ist es Ihre Lina.
    MÖBIUS   Grüß dich, Lina.
    FRAU ROSE   Johann Wilhelmlein,
mein liebes, liebes Johann Wilhelmlein.
    FRL. DOKTOR   So. Es wäre
geschafft. Frau Rose, Herr Missionar, wenn Sie mich noch zu sprechen wünschen,
stehe ich drüben im Neubau zur Verfügung. Sie geht durch die
Flügeltüre links ab.
    FRAU ROSE   Deine Buben, Johann
Wilhelm.
    MÖBIUS stutzt Drei?
    FRAU ROSE   Aber natürlich, Johann
Wilhelm. Drei. Sie stellt ihm die Buben vor. Adolf-Friedrich, dein Ältester.
    Möbius schüttelt ihm die Hand.
    MÖBIUS   Freut mich, Adolf-Friedrich,
mein Ältester.
    ADOLF-FRIEDRICH   Grüß dich, Papi.
    MÖBIUS   Wie alt bist du denn,
Adolf-Friedrich?
    ADOLF-FRIEDRICH   Sechzehn, Papi.
    [37]  MÖBIUS   Was willst du werden?
    ADOLF-FRIEDRICH   Pfarrer, Papi.
    MÖBIUS   Ich erinnere mich. Ich
führte dich einmal an der Hand über den Sankt-Josephs-Platz. Die Sonne schien
grell, und die Schatten waren wie abgezirkelt. Wendet sich
zum nächsten. Und du – du bist?
    WILFRIED-KASPAR   Ich heiße
Wilfried-Kaspar, Papi.
    MÖBIUS   Vierzehn?
    WILFRIED-KASPAR   Fünfzehn. Ich
möchte Philosophie studieren.
    MÖBIUS   Philosophie?
    FRAU ROSE   Ein besonders
frühreifes Kind.
    WILFRIED-KASPAR   Ich habe
Schopenhauer und Nietzsche gelesen.
    FRAU ROSE   Dein

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