Die Pilgergraefin
und, wie sie fand, recht unchristliche Art hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Was war nur aus dem freundlichen, sanftmütigen Pater geworden? Lag es an seinen Verletzungen, dass er sich so sehr verändert hatte? Auch die den Franziskanern zugesprochene Tierliebe hatte er vermissen lassen.
„Was das Pferd betrifft“, so hatte er beschieden, „so nehmen wir es mit, denn es kann uns gute Dienste leisten. Auf der Rückreise einer Pilgerfahrt sind die Bedingungen weniger streng. Was indes den Hund angeht, so wirst du ihn hier zurücklassen. Als ob jemals ein Pilger eine so nutzlose Kreatur durchgefüttert hätte!“
Nutzlose Kreatur, dachte Leonor empört, nun, da sie auf ihrem Strohsack in der Pilgerherberge lag, links und rechts umgeben von ihren schnarchenden Gefährten. Die Mitpilger hatten sie recht unterschiedlich empfangen. Zwar waren alle verblüfft gewesen, dass sie allein die Alpen überquert hatte, indes hatten einige von ihnen, darunter Helene, sie scheel angeguckt ob ihrer Männerkleidung. Lautstark hatte sie mit ihrer schrillen Stimme ihre Missbilligung kundgetan und sich dabei bekreuzigt. Und auch Gotthilf hatte sich zu einer Strafpredigt bemüßigt gefühlt, war jedoch von Pater Anselm unterbrochen und zum Schweigen gebracht worden. Andere hingegen hatten Verständnis gezeigt.
Leonor rümpfte die Nase, denn die ungewaschenen Leiber der Pilger strömten auch in dieser Nacht die ihr bereits bekannten unangenehme Ausdünstungen aus. Und wie sie es schon früher getan hatte, wünschte sie sich auch diesmal zurück in die freie Natur und das liebliche grüne Tal am Fuße der Berge. Immerhin hatte Tarras, der wieder einmal im Stall hausen musste – und sogar ohne Futter, denn Pater Anselm hatte sich geweigert, ihm welches geben zu lassen, und sie selbst führte keines mit sich –, ihr das Leben gerettet. Im Gegensatz zu ihren Pilgergefährten, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, nach ihr und Anna zu suchen, wie sie nun ganz sicher wusste. Vor lauter Sorge um ihren Anführer hatten sie sie und ihre Kammerfrau schlicht vergessen und ihrem Schicksal anheimgegeben. Nein, sie würde Tarras nicht ebenso schnöde im Stich lassen!
Im Stich lassen … Hatte Robyn de Trouville sie im Stich gelassen? Oder hatte gar sie den Chevalier im Stich gelassen? Warum hatte er nichts gesagt?
Warum hat er nichts gesagt? Warum habe ich nichts gesagt?
Unruhig wälzte sich Leonor auf ihrem Lager umher. Hätte sie den Anfang machen und Robyn ihre Gefühle verraten sollen? Durfte eine Frau das tun? Aber … war da nicht ein inniger Blick, ein besonderer Klang in seiner Stimme gewesen?
Oder bildete sie sich das alles nur ein?
Und warum hatte er den großen Beutel, prall gefüllt mit Silberpfennigen, in die Satteltasche von Maron gesteckt? Wollte er sie damit schnöde entlohnen? Oder hatte er ihr Wohl dabei im Sinn gehabt – vielleicht um ihr eine gewisse Unabhängigkeit von der Pilgergruppe zu ermöglichen?
Schon wieder Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort fand.
Ach Robyn, warum habe ich im entscheidenden Moment nur keinen Ton herausgebracht?
Leonor versuchte, sich jedes seiner Worte ins Gedächtnis zu rufen.
Und dann dieser Handkuss beim Abschied vor St. Paul … Bedeutete der nicht …? Andererseits – war der Abschied nicht sehr kühl und gleichmütig ausgefallen? Oder hatte er sich deshalb so beherrscht verhalten, da er vermutete, sie wollte mit der Pilgergruppe nach Hause zurückkehren?
Ihr Traum von dem Engel, der das Aussehen eines Ritters angenommen hatte, kam ihr wieder in den Sinn. Zwar war das Antlitz des Ritters bis auf die grünen Augen nur verschwommen zu erkennen gewesen, doch seine Gestalt hatte eindeutig der Robyns geähnelt. Hatte das alles etwas zu bedeuten? Und wenn ja, was ?
Wieder und wieder zermarterte Leonor sich das Hirn.
Schon erklang der erste Hahnenschrei – da hatte sie einen Entschluss gefasst.
Ächzend versuchte Pater Anselm, auf dem Strohsack in der Ecke des Pilgerschlafsaales eine halbwegs erträgliche Stellung zu finden. Obwohl er das Glück hatte, in der Nähe eines geöffneten Fensters zu liegen, durch das ab und zu ein Windhauch drang, war es heiß und stickig in dem Raum unter dem Dach, in dem sich mehr als zwanzig Pilger zur Ruhe gelegt hatten – und eine höllische Heerschar an Bettwanzen sich ihre Opfer suchten.
Doch nicht nur die Bisse der blutgierigen Insekten quälten ihn. Schier unerträglich schien ihm heute das härene Gewand, das er zur
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